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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

178–180

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Radine, Jason

Titel/Untertitel:

The Book of Amos in Emergent Judah.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XII, 270 S. 23,2 x 15,5 cm = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 45. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-150114-2.

Rezensent:

Reinhard Müller

Das Buch von Jason Radine ist die leicht überarbeitete Fassung seiner Dissertation aus dem Jahr 2007, die bei Brian Schmidt am Department of Near Eastern Studies der University of Michigan, Ann Arbor, entstanden ist. R. erklärt die Entstehung des Amosbuches auf eine Weise, die quer zu den klassischen Modellen steht, sich aber mit einer Reihe von Anfragen berührt, die von der jüngeren europäischen Forschung an diese Modelle gerichtet wurden: Nach R. wurde die älteste Gestalt des Buches in Juda verfasst, und zwar nach dem Untergang des Königreiches Israel, wahrscheinlich in den letzten beiden Jahrzehnten des 8. Jh.s. (vor 701). Das Buch sei keine Prophetie, sondern ein politischer Traktat, der den altorientalischen »literary predictive texts« nahestehe. Es wolle einem Adressatenkreis, der sowohl Judäer als auch Flüchtlinge aus dem Norden umfasst habe, das Ende Israels erklären und auf diese Weise verhindern, dass Juda dasselbe Schicksal treffe.
R. entwickelt diese These in sechs Schritten. Zunächst (1.) rekonstruiert er die ursprüngliche Gestalt des Buches, wobei Grundzüge einer redaktionsgeschichtlichen Entwicklung sichtbar werden: Das älteste Amosbuch habe (mit Unsicherheiten im Detail) 1,1–2; 2,6–7,9 und 8,1–9,10 umfasst (möglicherweise ohne 3,1–2 und die Doxologien). (2.) Diese Grundschicht datiert R. auf die Zeit kurz nach der Eroberung Israels durch die Assyrer; die wichtigsten Argumente sind die wiederholten Bezüge auf militärische Niederlagen (z. B. 2,14–16; 3,11 und 9,1), die Erwähnung von Kalne, Hamath und Gat in 6,2, die Götternamen sikkût und kijjûn in 5,26, ̉ašmat šōmerôn in 8,14 (was im Blick auf IIReg 17,30 der Name der Gottheit Ašima sein könne, die von Deportierten aus anderen Gegenden des Reiches nach Samaria gebracht wurde) sowie die ursprünglich fehlende Erwähnung der Katastrophe Judas, die für eine »vorexilische« Entstehung spreche. Anschließend (3.) vergleicht R. das Buch mit der altorientalischen Prophetie: Gegenüber den kurzen Orakeln der Ekstatiker, die meist als Antworten auf entsprechende Anfragen ergangen seien, erweise sich das viel längere Amosbuch als ein rein literarisches Werk. (4.) Es stehe formal und inhaltlich den »literary predictive texts« nahe (vor allem den »Akkadian Prophecies«, der »Marduk«, »Shulgi«, »Uruk« und »Dynastic Prophecy«; zusätzlich verweist R. auf ägyptische Beispiele wie die Prophezeiung des Neferti sowie die Inschriften vom Tell Deir ˛Allā). Genauso wie diese sei das Amosbuch in der literarischen Form einer umfangreichen Prophezeiung verfasst worden, um ex eventu zu begründen, dass Jahwe selbst Israels assyrische Eroberung veranlasst habe. Im nächsten Schritt (5.) ordnet R. das Buch in die aus archäolo­gischen Zeugnissen erschlossene Situation Judas am Ende des 8. Jh.s ein, die vor allem durch Flüchtlingsströme aus dem Norden geprägt gewesen sei. Vor diesem Hintergrund bestimmt R. den Zweck des Buches im Vergleich mit Städteklagen (z. B. den Klagen um Ur und Uruk) und anderen »divine disaster texts« (wie dem Tukulti-Ninurta-Epos und dem Erra-Gedicht): Indem die Klagemotivik Jahwes Zorn über Israel als gerechtfertigt erweise, werde Juda als alleiniges Königreich des Gottes Jahwe legitimiert; zugleich sollten die Judäer davor gewarnt werden, die Fehler des Nordens zu wiederholen und Jahwes Zorn auf sich selbst zu ziehen. Die israelitischen Flüchtlinge wolle das Buch davon abhalten, weiterhin andere Heiligtümer als den Jerusalemer Tempel zu besuchen. Ab­schließend (6.) ordnet R. die jüngeren Schichten des Buches historisch ein: Die sekundären Völkersprüche (1,3–2,5) aktualisierten das Buch im Blick auf die babylonischen Eroberungen; die Amazja-Erzählung stehe mit ihrer kritischen Sicht der Prophetie dem nachexilischen Text Sach 13 nahe, während der Epilog vor allem Bezüge zu Sach 14 erkennen lasse.
R.s Modell ist ein überaus anregender und in seiner Konsistenz beeindruckender Beitrag zur Debatte um die frühe Schriftprophetie. Im Blick auf die Anfänge des Amosbuches könnte sich zeigen, dass der von R. gewiesene Weg zumindest teilweise gangbar ist. Im Ganzen ist die These aber nicht unproblematisch. Drei Punkte seien genannt.
1. R. gesteht zwar zu, dass das Buch prophetische Orakel enthalten könnte, bestreitet aber, dass diese in Grundzügen rekonstruierbar sind. Diese Skepsis leuchtet nicht ein. Worte wie 3,12; 5,3 oder 5,18–20 lassen die Form prophetischer Logien deutlich erkennen; weshalb sie für die Frage nach dem prophetischen Wirken des Amos keine Rolle spielen sollen, lässt sich nicht nachvollziehen. Dass diese Worte dabei durchaus in den Horizont der altorientalischen Prophetie eingeordnet werden können (vgl. nur die Parallele zwischen 5,18–20 und Komb. I der Bileam-Inschrift), wird von R. nicht gesehen.
2. Damit hängt zusammen, dass die globale formgeschichtliche These, das Amosbuch stünde den »literary predictive texts« nahe, allenfalls Teilaspekte erklären kann. Ein wesentlicher Unterschied zu dieser Textgruppe wird von R. nicht hinreichend bedacht: Die »literary predictive texts« kreisen um das Verhalten von Königen; die monarchische Institution ist in ihnen ein zentrales Thema. Mehrfach legt es sich nahe, dass durch eine literarische Prophe­zeiung, die zurückliegenden Katastrophen des Königtums erklärt, Dynastien legitimiert werden sollten, die in der Gegenwart der jeweiligen Adressaten herrschten. Nichts dergleichen ist im Amosbuch zu finden. Es mag zu größeren Teilen nach 720 verfasst worden sein; eine legitimierende Absicht im Blick auf das judäische Königtum gibt das Buch aber nicht zu erkennen. Die Institution des Königtums spielt, abgesehen von sekundären Abschnitten wie 7,10–17, kaum eine Rolle.
3. Methodisch schwer nachvollziehbar ist, dass R. seinem Mo­dell keine eigene literarkritische Untersuchung zugrunde legt und sich nicht darum bemüht, die Form der Einzeltexte präzise zu beschreiben. R. bestimmt die ursprüngliche Gestalt des Buches und seiner Redaktionsgeschichte lediglich, indem er Forschungs­positionen referiert und bewertet; eine detaillierte Analyse der Texte wird von ihm nicht vorgeführt. R.s redaktionsgeschicht­liches Modell ist daher an etlichen Stellen wenig plausibel. So wird sich etwa die These, nur die Israelstrophe in 2,6–16 sei Bestandteil des ältesten Buches gewesen, die übrigen Völkersprüche da­gegen seien en bloc (!) sekundär hinzugekommen, kaum durchsetzen können, weil die komplexe Struktur des Zyklus damit nicht er­fasst wird.
Gleichwohl sei betont, dass R.s Buch nicht wenige bedenkenswerte Ideen enthält. R.s Annahme, das älteste Amosbuch sei im Rückblick auf die Katastrophe Israels entstanden, ist in den Augen des Rezensenten nicht auszuschließen. Im Blick auf den möglichen historischen Hintergrund im späten 8. Jh. eröffnet R. interessante Perspektiven, die allerdings weiterer Präzisierung bedürften.
Dem sorgfältig redigierten Band sind Stellen-, Autoren- und Sachregister beigegeben.