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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

48–50

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Feldmeier, Reinhard, u. Ulrich Heckel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Heiden. Juden, Christen und das Problem des Fremden. Mit einer Einleitung von M. Hengel.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1994. XVIII, 449 S. gr.8o = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 70. Lw. DM 288,­. ISBN 3-16-146147-9.

Rezensent:

Andreas Lindemann

Der Sammelband mit 15 Aufsätzen von "Freunden und Schülern" M. Hengels (XV) fragt nach dem Verhältnis von Juden und Christen zu "den Heiden". Er umfaßt drei Themenbereiche: Acht Aufsätze befassen sich mit der frühjüdischen Literatur (vom AT bis zur rabbinischen Literatur); sechs Aufsätze behandeln die frühchristliche Literatur (vom NT über den 1. Clemensbrief bis zu einem Traktat aus dem späten 4. Jh.); und eine Studie untersucht die "innerpagane Polemik" gegen Epikur. Die meisten Aufsätze enthalten ein z.T. sehr ausführliches Literaturverzeichnis; der Band enthält ein detailliertes Stellenregister (401-436) sowie ein Namen und Sachregister (437-449) und ist insofern auch als Nachschlagewerk sehr geeignet.

Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß die antike Welt "eine multikulturelle Gesellschaft" war (so das Vorwort der beiden Herausgeber, V). Bewußt ziehen einige Beiträge Verbindungslinien zur Gegenwart, ohne dabei allzu unvermittelt Analogien zu behaupten. Gefragt wird, wie Juden und Christen "die Völker" wahrgenommen und wie sie sich den von ihnen ausgehenden Herausforderungen gestellt haben; dabei soll gezeigt werden, "wie Juden und Christen bei der Begegnung mit dem Fremden ihren Glauben immer wieder neu verstanden und interpretiert haben" (V).

M. Hengel hat eine Einleitung verfaßt (IX-XVIII), die in den Gesamtrahmen einführt und die einzelnen Aufsätze kurz charakterisiert. Er verweist zunächst auf den in der jüngeren ntl. Forschung wiederentdeckten jüdischen Ursprung und Hintergrund auch des Heidenchristentums (wobei er davon ausgeht, die paulinischen "Heidenchristen" seien meist Gottesfürchtige oder Sympathisanten der Synagoge gewesen, Lukas habe also in der Apg von der "Missionstaktik" des Paulus "ein recht reales Bild gezeichnet" [X], worüber man gewiß streiten kann); dann betont er, daß es sehr unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung Israels mit "den Völkern" gegeben habe, wobei er insbesondere auf die Septuaginta verweist, die gleichermaßen ein "Medium religiöser Propaganda" und ein Zeugnis des Beharrens auf der "eigenen religiös-nationalen Identität" gewesen sei (XIV).

P. Marinkovic stellt (3-21) ein biblisches und ein nachbiblisches Beispiel für die jüdische Darstellung des Zugangs von Heiden zum jüdischen Glauben dar, Naeman (2Kön 5) und König Izates von Adiabene (Jos Ant 20,2). N. Umemoto beschreibt (22-51) Philos Sicht der Beziehungen zwischen Juden, "Heiden" und dem ganzen Menschengeschlecht: Israel habe die eigentlich allen Menschen auferlegte, von ihnen aber vernachlässigte Pflicht, Gott zu "schauen" und ihm zu dienen. F. Siegert stellt (52-58) das Bild der Heiden in der pseudo-philonischen Predigt ’De Jona’ dar; der Prediger sehe in den Niniviten "die Menschen" schlechthin, die durch Jonas Predigt zur Umkehr kamen und so die Menschenfreundlichkeit Gottes erfuhren; ’De Jona’ sei "eine Predigt, die es wagt, die Heiden ganz unvoreingenommen in den Blick zu nehmen, und die ermutigt, auf sie einzugehen", weshalb sie als "ein Ruhmesblatt des hellenistischen Judentums" angesehen werden dürfe (58). Rabbinische Interpretationen der bisweilen als vorbildlich geltenden, bisweilen aber auch als trügerisch und nur zeitweilig empfundenen Buße der Niniviten stellt B. Ego dar (158-176); in christlicher Überlieferung erscheine Ninive später als Vorbild der Kirche und als Gegenbild zum "verstockten" Israel.

R. Deines analysiert (59-91) die in den Texten der Qumrangemeinde sichtbar werdende Fremdenfeindlichkeit; bestimmend sei der Gedanke, daß das Land Israel von allem Fremden befreit werden müsse ­ erst dann könne "der Zion seine Tore auch für die Völker der Welt öffnen" (87). H. Lichtenberger beschreibt (92-107) den Zusammenhang von Heiligkeit des Landes und Heiligung des Lebens, wie er in den Qumrantexten, in rabbinischer Literatur und in der Apokalyptik sichtbar werde; dabei habe in Qumran der Tatbestand, im Land Israel zu leben, fast alle Bedeutung verloren: "Entscheidend ist allein das Befolgen der Ordnungen der Reinheit und des Kultes der qumran-essenischen Heilsgemeinde" (98). A. M. Schwemer bietet (108-157) den Text und die traditionsgeschichtliche Auslegung der vermutlich um 135 n.Chr. entstandenen rabbinischen Legende, wonach Elia in Gestalt eines Arabers einem jüdischen Bauern die Geburt des Menahem ben Hiskija als des Messias in Bethlehem angesagt habe. Die Legende verarbeitete "genuin zelotische Traditionen, wenn sie die Gestalt des Eiferers Elija zum Vorbild für ihre Messias-Haggada wählt" (147); daß Elia als Araber eingeführt werde, habe innere Gründe: Wenn Menahem der Messias war und ist, "so konnte er bei seinem gescheiterten historischen Auftreten noch nicht ’offenbart’ werden. Andererseits, wenn er der Messias war, so mußte Elija auf dem Plan erschienen sein" (ebd.). F. Avemarie schließlich schildert (177-208), wie "Edom", das Volk der Nachkommen Esaus, in der frühen rabbinischen Literatur als Sinnbild für eine negative Rom-Darstellung (und später für das mittelalterliche christliche Abendland) erscheint.

Mit einer formgeschichtlichen Analyse von Mk 7,24-30 durch R. Feldmeier wird der zweite Teil des Bandes eingeleitet (211-227). Mit Bultmann handele es sich um "eine Art Streitgespräch", dessen Besonderheit darin bestehe, daß Jesus "sich überzeugen läßt von jemandem, der als Frau und Heidin für einen frommen Juden der damaligen Zeit gleich in mehrfacher Hinsicht inakzeptabel war", was "von einer bemerkenswerten Bereitschaft zur Neuorientierung" zeuge (222). Das gelte "unabhängig von der Frage nach der Historizität... Die Begebenheit ist in jedem Fall darin authentisch, daß sich in ihr nicht das verklärte Bild des unfehlbaren religiösen Heroen spiegelt" (224); so sei dieses Christusbild "auch eine Einladung, frei zu werden vom Zwang zur Selbstimmunisierung gegenüber denen, die anders sind" (226). Sehr sorgfältig untersucht J. Frey "Gestalt und Funktion der Rede von den Heiden" im Johannesevangelium (228-268). Zwar fehle vordergründig betrachtet der Begriff "Heiden", und selbst in Jo 12 komme es nicht zur Begegnung zwischen Jesus und den "Griechen", doch die Stellung der Völker zu Jesus werde sehr wohl thematisiert, und zwar in 11,47-53 (im Spiel mit den unterschiedlichen Begriffen für "Volk") wie auch in der Hirtenrede Jo 10. Lese man 7,35 und 12,20 f. gemeinsam, so zeige sich der Vorgriff auf die Heidenmission: Wenn die "Griechen" nach Jesus "fragen", dann ist "die Stunde" gekommen, "in der Jesus als Menschensohn und Gottesknecht am Kreuz erhöht werden und so allen zum Heil ansichtig werden soll" (259; Hervorh. im Orig.). Frey lehnt von daher die These einer unmittelbaren Verortung des Jo im Kontext des Judentums ab (235-237). U. Heckel geht (269-296) auf das Bild der Heiden und die Identität der Christen bei Paulus ein. Die traditionellen Topoi der jüdischen Heidenpolemik richteten sich bei Paulus weniger nach außen als vielmehr gegen innergemeindliche Mißstände; wenn Paulus von seiner Missionsaufgabe unter den "Völkern" spreche, so schließe dies die Juden nicht aus ­ Abraham gelte als Integrationsfigur für Juden- und Heidenchristen in gleicher Weise (294). G. Schimanowski fragt (297-316) am Beispiel der Paränese des 1Thess nach "Abgrenzung und Identitätsfindung" der christlichen Gemeinden, wobei er m.R. auf den Tatbestand verweist, daß diese Gemeinden "schon sehr früh als eigenständige und abgrenzbare Gruppierungen nach außen erkennbar waren" (297); die These, daß die Rede vom "ruhen" in 1Thess 4,11 auf das Halten der Sabbatruhe zurückverweise, bedarf aber trotz der sprachlichen Parallelen bei Philo wohl doch noch weiterer Diskussion.

J. C. Salzmann verweist (317-324) auf den erstaunlichen Tatbestand, daß in 1Clem 55 das Verhalten von Heiden als für die Christen vorbildlich erwähnt wird ­ eine Aussage, die Salzmann mit Blick auf das Gespräch zwischen den Religionen für unverändert aktuell hält (324). Höhepunkt und Abschluß des zweiten Teils ist die Studie von Chr. Markschies zu dem von ihm so bezeichneten "Traktätchen" ’carmen contra Paganos’, das in einer Pariser Handschrift erhalten ist und hier zum erstenmal in deutscher Übersetzung vorgelegt wird. Das im Jahre 393/94 verfaßte, 122 Zeilen lange Lehrgedicht greift mit schärfster Polemik den vom römischen Präfekten Flavian d.Ä. unternommenen Versuch an, die traditionelle römische Religiosität wieder zu beleben. Markschies gibt philologische und inhaltliche Erläuterungen und beschreibt das "Feindbild", das in dem Gedicht entwickelt wird. Abschließend verweist er auf mögliche heutige Entsprechungen: "Dieser Text zwingt denen, die heute am Ende eines nicht minder krisengeschüttelten Jahrhunderts Theologie treiben wollen, die Überlegung nach ihrem eigenen Verhältnis zu den anderen Religionen im Religionensynkretismus unserer Tage auf"; "auch heutige evangelische Theologie als Theorie eines denkenden Glaubens wird, gerade weil sie der intoleranten Linie des carmen nicht folgen darf, trotz allem von ihm zumindest seine zentrale Frage übernehmen und sie in aller Offenheit eines Gespräches doch deutlich stellen: Was nützt der jeweilige Kultus, wie bewährt sich die jeweilige Religion im privaten (und öffentlichen) Leben und vor allem im Sterben?" (367 f.).

Im dritten Teil trägt A. Rehn "Beobachtungen zur Epikurpolemik in der römischen Literatur" vor (381-399), wobei er von dem Seneca-Wort ausgeht ’vomunt ut edant, edunt ut vomant’, das sich freilich, wie Rehn zeigt, nicht gegen die Epikureer gerichtet habe. Anders als viele andere antike Autoren, die die epikureischen Lehren bewußt verkürzt und lediglich "bestimmte Topoi wie Fressen, Saufen und sexuelle Ausschweifungen" ständig wiederholt hätten (397), habe Senenca ein sehr bewußt differenziertes Epikurbild gehabt.

Der Band ist in seiner Geschlossenheit und zugleich Vielseitigkeit ein schönes Beispiel für moderne Formen wissenschaftlicher Kooperation. Er lädt dazu ein, sich auf die Fragestellung im ganzen weiter einzulassen und in der hier vorgestellten Richtung weiterzuarbeiten.