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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

174–176

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Marböck, Johannes

Titel/Untertitel:

Jesus Sirach 1–23. Übers. u. ausgelegt v. J. Marböck.

Verlag:

Freiburg/Basel/Wien: Herder 2010. 285 S. 23,7 x 17,0 cm = Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. EUR 60,00. ISBN 978-3-451-26832-8.

Rezensent:

Otto Kaiser

Knapp 40 Jahre nach dem Erscheinen seiner bis heute grundlegenden Habilitationsschrift »Weisheit im Wandel. Untersuchungen zur Weisheitstheologie bei Ben Sira« und einer Fülle von Aufsätzen über den sich der Herausforderung des Hellenismus stellenden jüdischen Weisen hat der emeritierte ordentliche Professor für Altes Testament und jetzige Domherr an der Kathedrale zu Linz, Johannes Marböck, den ersten Band seines Sirachkommentars vorgelegt. Er hat ihn dem vor zwei Jahren aus diesem Leben gerissenen Begründer der Kommentarreihe Erich Zenger gewidmet und ihm damit ein würdiges Denkmal gesetzt.
Der Kommentierung von Sir 1–23 ist eine knappe und zugleich präzise Einführung vorangestellt (21–34). Beide beruhen auf einer umfassenden Kenntnis der Sekundärliteratur, die sich bei seiner kontinuierlichen Beschäftigung mit den Problemen des Buches bei der ihm eigenen Gründlichkeit von selbst ergeben hat. So begründet er in der Einleitung unter 1.–1.1 nach einem Überblick über den Umgang der Kommentare mit der Textüberlieferung des Buches seine Entscheidung, sich aus dem Spiel, einen Urtext zu rekonstruieren, herauszuhalten und sich stattdessen an den älteren griechischen Text G I samt seinen jüngeren Ergänzungen (G II) zu halten, weil G I die älteste und einzig vollständige Textform darstellt. G I stammt nach dem Prolog von dem Enkel Ben Siras, der im Jahr 132 v. Chr. und mithin während der turbulenten Zeit des Bürgerkrieges zwischen Ptolemaios VIII. (bzw. VII.) Euergetes und seiner Ge­mahlin Kleopatra II. nach Ägypten gekommen war und die Übersetzung um 116 v. Chr. verfasst hat (vgl. die Ausführungen zum Prolog des Buches, 40–45). Aus der im Prolog des Buches von dem Enkel mitgeteilten Absicht, die Schrift seines Großvaters den in Alexandrien nach (jüdischer) Bildung Strebenden zugänglich zu machen und damit zugleich zum Gehorsam gegen die Tora zu erziehen, ergibt sich für den Ausleger die Aufgabe, sorgfältig auf die sprachliche Eigenart dieser Übersetzung zu achten, um auf diese Weise ihr spezifisches Umfeld in der ägyptisch-hellenistischen Diaspora zu rekonstruieren (1.1, 24–26; vgl. z. B. S. 77 mit dem Hinweis, dass hinter der Aufforderung, für die alten Eltern zu sorgen in 3,1–16, auch die Abgrenzung gegenüber dem ptolemäischen Recht steht, das keine Fürsorgepflicht der Kinder für die alten Eltern kannte). Dabei darf nach M.s Überzeugung G II dieselbe Autorität besitzen, weil sie in der christlichen Kirche über zwei Jahrtausende hinweg zur Verfügung standen und zum Teil abwechselnd verwendet worden sind ( 1.2. Zur Frage der Kanonizität der Textfassungen von Gr; 26). Die sachlich begründete Bevorzugung von G I und G II führt jedoch nicht dazu, dass M. die hebräischen, syrischen und altlateinischen Textzeugen aus dem Auge verliert. Ihre Lesarten werden, wann immer es zur Erfassung der Eigenart des G-Textes erforderlich erscheint, in den Anmerkungen zu Text und Übersetzung diskutiert. (Als Beispiel sei auf die umsichtige Diskussion der Textüberlieferung von 19,17–10,3 auf S. 149–150 und von 10,22a auf S. 157 verwiesen, obwohl ich in diesem Fall die Rekonstruktion von Ziegler für sachgemäß halte.) Aus dieser Entscheidung ergibt sich weiterhin die in der Kommentierung verfolgte Leitfrage nach der im Hintergrund dieser Textfassungen stehenden Lebenswelt und damit ihrer Besonderheit. Dabei erweist sich zumal die Untersuchung über die Hapaxlegomena des griechischen Sirachtextes von Christian Wagner (BZAW 282, 1999) als sachgemäßer Ausgangspunkt.
Doch ehe M. sich dieser Aufgabe in seinen Auslegungen stellt (36–277), begründet er knapp die von ihm (und auch vom Rezensenten) befolgte Gliederung des Buches in die drei Komplexe der Kapitel 1–23; 24–42,14 und 42,15–51,30, die sich nach einem Überblick über die in das Werk eingeschalteten Weisheitsperikopen ergibt. Sie führt im vorliegenden Kommentar abgesehen vom Prolog des Enkels zu den folgenden fünf Teilen I: 1,1–4,10: Weisheit und Furcht des Herrn – Programm und erste Realisierungen (45–88); II: 4,11–6,17: Bewährungen und Segnungen der Weisheit (89–114); III: 6,18–14,19: Weisheit in vielfältigen Beziehungen (115–185); IV: 14,20–19,17.18–19: Weisheit und Gottes gute Ordnung für seine Schöpfung (186–236) und V: 19,20–23,27: Weisheit, Gottesfurcht, Gesetz und rechte Rede (238–276).
Der Aufbau der Kommentierung folgt in den für die Reihe verbindlichen fünf Schritten »Text«, »Zu Text und Übersetzung«, »Analyse«, »Auslegung« und »Bedeutung«. Im letzten Abschnitt werden die innerbiblischen Beziehungen des behandelten Textes und dann Sirachs eigene Position vorgestellt. Die zum Verständnis der Auslegungen erforderlichen Grundkenntnisse hat M. im 3. Abschnitt der »Einleitung« mitgeteilt. Sie steht unter der Überschrift »Zu einer Gesamtschau der Gestalt und des Buches Jesus Sirach« und behandelt der Reihe nach Ben Sira in seiner Zeit (28–32) und d. h. vor der Ablösung der Vorherrschaft der Ptolemäer durch die Seleukiden über Palästina und Syrien bis zum Vorabend der inneren Krise des jüdischen Ethnos, die durch die Absetzung des Zadokiden Onias III. durch den Seleukiden Antiochos IV. ausgelöst wurde. In ihr trat er mahnend dafür ein, das Amt des Hohenpriesters nicht zu beschädigen (50,22–24). In 38,24–39,11 stellte er dem Idealporträt des Weisen den gesetzestreuen Schriftgelehrten an die Seite. Dabei zeigt seine Kritik an den Reichen, dass er selbst aus dem (abhängigen) Mittelstand stammt. Sein geistiges Profil erweist ihn als schriftgelehrten Weisen, der für Maßhalten, Zurück­haltung und Ausgleich innerhalb der vielfältigen Strömungen des damaligen Judentums eintrat, während sein Verhalten gegenüber der hellenistischen Kultur dadurch gekennzeichnet war, dass er sich neuen Themen (die M. schon 1971 vorgestellt hat), wie denen der Bildungsreise (34,9–12), des Symposiums (31,12–32,13), des gutes Verhältnisses zum Arzt (38,1–15), der Freundschaft (vgl. z. B. 6,5–17 und dazu S. 111–114) und der wahren und falschen Scham (41,14–42,14), öffnete. Darüber hinaus ließ er sich von stoischen Lehren über Gottes Vorsehung und Gerechtigkeit anregen, soweit sie nicht gegen den biblischen Gedanken der Wahlfreiheit des Menschen verstießen (vgl. 15,11–16 und dazu den Exkurs »Sirach und die Popularphilosophie zur Verantwortung des Menschen«, 202–203). Das dem Menschen als Führer zur Weisheit dienende Gesetz am Sinai war von vornherein mit der Absicht von Gott erlassen, als das Gesetz des Lebens zum Gesetz aller Menschen zu werden (17,1–14, vgl. den bruchlosen Übergang der Aussagen über die dem Menschen von Natur aus gegebene Urteilskraft zur Rühmung der Israel offenbarten Tora in den V. 6–14, dazu S. 215–216). Andererseits stellt das Buch Ben Siras in der Geschichte der zurückliegenden biblischen Weisheit den Höhepunkt dar, indem sein Verfasser das Gesetz in die Weisheit integrierte. Dass er in der Nachfolge der Propheten für das Recht der Armen eintrat, darf man ebenso wenig übersehen wie seine Gabe, die biblische Psalmendichtung selbständig fortzusetzen (vgl. die hymnische Prägung von 1,1–10; den Ruf zur Umkehr und Lobpreis Gottes in 17,24–18,14, dazu S. 50–54 und S. 220–225 und weiterhin zumal 42,15–43,33 und 51,1–12 sowie das große Enkomion in Gestalt des Lobes des Väter in 43,1–50,24). Sein Reden über die Frauen in 9,1–9 erfolgte den Anschauungen seiner Zeit gemäß vom Standpunkt des Mannes aus, sieht aber im Mann, anders als Spr 7, die Frau nicht als Verführerin und den Mann als ihr Opfer, sondern betont statt dessen die Verantwortung des Mannes für seinen Umgang mit den Frauen und die Kontrolle seiner Begierden (144).
Der Reichtum des Buches besteht darin, dass es alle Lebensbereiche und Lebensalter abschreitet, um seine Schüler und Leser zu einem Leben in der Gottesfurcht, der Selbstbeherrschung und der Rücksicht und Fürsorge mit den Alten und Schwachen anzuhalten. Wobei die Furcht Gottes der Anfang, Fülle und Wurzel der Weisheit ist (1,11–21; vgl. 55–59 mit dem Exkurs »Gottesfurcht vor Jesus Sirach«, 57). Dass Ben Sira das Spruchbuch kannte, bedarf keines Nachweises, weil er nicht nur die Gattung der Lehrrede, sondern auch einzelne Topoi aus ihm übernommen hat. Dass er das Koheletbuch ebenfalls kannte und sich mit ihm auseinandersetzte, hat M. schon 1997 (L. Schwienhorst-Schönberger [Hrsg.], BZAW 254, 275–301) nachgewiesen. Eine Kenntnis Homers, Hesiods und der theognidischen Spruchsammlung kann man bei ihm vermutlich ebenfalls voraussetzen (30). Mehr als auf den inhaltlichen Reichtum und die abgewogenen Urteile dieses Kommentars kann der Rezensent aus Raumgründen nicht hinweisen. Daher schließt er mit einem: »Tolle et lege!« – »Nimm und lies!« Denn Du wirst es nicht bereuen und am Ende dieses Buch ebenso hoch schätzen wie der Kommentator und sein Rezensent. Möge M. Kraft und Gesundheit erhalten bleiben, das begonnene Werk zu vollenden.