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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

170–172

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Parker, David C.

Titel/Untertitel:

Codex Sinaiticus. The Story of the World’s Oldest Bible.

Verlag:

London: The British Library; Peabody: Hendrickson 2010. XII, 195 S. m. Abb. 24,4 x 17,2 cm. Lw. £ 20,00. ISBN 978-0-7123-5803-3 (The British Library); 978-1-59856-576-8 (Hendrick­son).

Rezensent:

Christfried Böttrich

Seit nunmehr 152 Jahren hält die Geschichte einer Bibelhandschrift die gelehrte Welt in Atem: Der »Codex Sinaiticus«, zwischen 1844 und 1859 von Constantin Tischendorf im Katharinenkloster entdeckt, gilt als die umfangreichste und älteste Vollbibel in griechischer Sprache. Infolge ihrer bewegten Fund- und Publikationsumstände wurde sie auf verschiedene Standorte aufgeteilt. Diese Situation war einer fortgesetzten wissenschaftlichen Untersuchung des Codex, die über Tischendorf hinauszuführen vermochte, lange Zeit hinderlich. Erst als 1933 der größte Teil der Handschrift mit 346 Blättern von St. Petersburg nach London verkauft wurde, schlug die Stunde einer neuen kodikologischen Aufarbeitung. Deren Ergebnisse sind in der Studie von Herbert J. M. Milne und Theodore C. Skeat (Scribes and Correctors of the Codex Sinaiticus, London 1938) niedergelegt, die seither als das wichtigste Referenzwerk gilt. Inzwischen aber tritt dieser nach wie vor fundamentalen Arbeit David Parkers Buch zur Seite, das sich einem ganz ähnlichen »Kairos« verdankt: Als von 2005 bis 2009 in einem groß angelegten internationalen Projekt die Digitalisierung und Veröffentlichung der vier zerstreuten Codex-Teile im Internet erfolgte (www.codex-sinaiticus.org), beinhaltete dies auch eine erneute Untersuchung des inzwischen weiter angewachsenen Bestandes. An diesem Projekt war P., einer der führenden Textkritiker und Chairman des International Greek New Testament Projects, von der ersten Idee bis zum editorischen Abschluss maßgeblich beteiligt. Mit seinem Team in Birmingham zeichnete er vor allem für die Transkription verantwortlich, die angesichts der zahlreichen Korrekturen und Beschädigungen namentlich der fragmentarischen Blätter eine enorme Herausforderung darstellte. Mit Fug und Recht kann man P. als einen der Väter und Promotoren des Projektes überhaupt betrachten. Aus dieser intimen Sachkenntnis heraus hat er sein Buch geschrieben.
Von der ersten bis zur letzten Seite gelingt es P., sein Lesepublikum zu fesseln. Unterhaltsam im Ton, präzis in der Sache und formschön im Layout wird die faszinierende Geschichte des Codex Sinaiticus erzählt, über die wir heute aufgrund einer neuen Quellenlage sehr viel besser informiert sind als noch vor 70 Jahren. Zwölf Kapitel leuchten verschiedene Aspekte dieser Geschichte aus und bieten einen umfassenden Überblick über den jüngsten Forschungsstand. Jedem Kapitel ist ein kurzer Abschnitt mit dem Nachweis der Quellen sowie mit weiteren Lesehinweisen angefügt.
Kapitel 1 (Every Books its Destiny) würdigt den Codex im Ganzen – für die christliche Literatur sei er das, was die Hagia Sophia für die christliche Architektur sei. Eine Kurzfassung seiner Geschichte sowie eine Zusammenstellung aller sachlichen Daten (einschließlich einer Auflistung des Inhaltes) runden diesen ersten Überblick ab. Nach Einbeziehung der neuen Funde von 1975 lässt sich der Bestand heute definitiv mit 822 Blättern angeben; der ursprüngliche Umfang muss demnach einmal 1486 Blätter betragen haben. In Kapitel 2 (The Christian Book in the Age of Constantine) geht P. den möglichen Entstehungsumständen des Codex nach. Zu Recht begegnet er der Annahme, der Codex sei ein Teil jenes berühmten Bibelauftrages Kaiser Konstantins gewesen (Euseb VitConst IV 34–37), mit Skepsis. Wie man sich die Produktion einer Vollbibel im 4. Jh. vorzustellen hat, schildert Kapitel 3 (Making a Bible in the Year 350): Hier galt es, zunächst die noch nicht kanonisch festgelegten Bücher auszuwählen und anzuordnen, Entscheidungen hinsichtlich der Textform zu treffen und die Ausstattung des Buches seinem beabsichtigten Zweck entsprechend zu bestimmen. Kapitel 4 (Setting to Work) schlägt die handwerkliche Seite des Unternehmens auf: Pergamentherstellung, Blattaufteilung und Kalkulation des benötigten Raumes, Layout, Tinte, die Beteiligung verschiedener Schreiber und deren Fertigkeiten, die Schriftform – all dies hat seine Spuren in der Handschrift selbst hinterlassen. Auch dafür, dass im Scriptorium vermutlich nicht nach Diktat, sondern nach Vorlage kopiert wurde, gibt es Indizien. Schließlich wurde das Buch gebunden und mit Markierungen versehen, die eine Navigation in dem umfangreichen Konvolut an Pergamentblättern erleichtern sollten.
Aufschlussreich ist auch die Kostenrechnung, die P. hier aufgrund antiker Preisangaben anstellt: Der Codex hatte demnach einen Wert von ca. 19,7 Solidi, was dem Gegenwert von ca. vier Tonnen Weizen oder einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von Priestern und Diakonen entspräche. Kapitel 5 (The Scribes and What They Did) schaut den nachweislich vier Schreibern bei ihrer Arbeit über die Schulter, vermerkt ihre Fehler und Eigenheiten, den Gebrauch von nomina sacra, die Gestaltung von Überschriften oder Buchschlüssen. Denselben Blick richtet Kapitel 6 (The Correctors and What They Did) auf die Korrektoren. Hier haben die Kolophone am Ende von 2Esdras und Ester seit jeher das größte Interesse auf sich gezogen, da sie u. a. Auskunft über den Aufenthalt des Codex in dem berühmten Scriptorium von Cäsarea geben. Für die wiederholten Korrekturen gibt es eine ganze Reihe von Gründen – wie schlichte Schreibfehler oder wiederholte Revisionen anhand anderer Vorlagen. Wie weit das gehen konnte, illustriert P. an einem Beispiel aus 2Esdras 21.
Im Mittelpunkt des Interesses aber steht dann natürlich die besondere Textform des Codex, der sich Kapitel 7 (The Text of the Bible in Codex Sinaiticus) zuwendet: Hier lässt P. eine ganze Reihe von Beispielen Revue passieren, die im Alten Testament vom Richterbuch über Ester, Tobit und Jeremia bis zum Psalter reichen. Im Neuen Testament sind es die auffälligen Lesarten in Mt 5 und 6, die Be­sonderheiten des Markusschlusses, Joh 8 und 21 sowie – besonders interessant – das Textlayout von 1Kor 13, das innerhalb einer Kolumne den Text in kurze Sinneinheiten pro Zeile aufteilt. Kapitel 8 (Beyond the Scriptorium) verfolgt die weitere Geschichte des Codex, soweit sie sich noch anhand von späteren Glossen, Resten von Einbänden oder anderen Benutzungsspuren nachzeichnen lässt. Diese Spuren führen bis in die Mitte des 18. Jh.s, als der Codex vermutlich aus der Bibliothek ausgelagert wurde und einem Prozess der allmählichen Auflösung anheimfiel – was vor allem die Blätter aus den neuen Funden von 1975 belegen. Damit ist dann auch der Punkt erreicht, in Kapitel 9 (1844–1869) die moderne Entdeckungsgeschichte zu evaluieren: P. stellt ihr die maßgeblich be­teiligten dramatis personae voran, unter denen Constantin Tischendorf eine zentrale Rolle spielt. Sein Bericht bedarf indessen der sorgfältigen Prüfung, insbesondere hinsichtlich jenes ominösen Korbes in der Klosterbibliothek von 1844. Einzig an diesem Punkt würde ich anders als P. urteilen: Ein Korb dieser Art, wie er auch von anderen Reisenden beschrieben wurde, diente definitiv nicht der regulären Aufbewahrung (rechteckiger!) Codices. Wenn sein Inhalt wohl auch nicht »für das Feuer« bestimmt war (hier irrte Tischen­dorf), so handelte es sich dabei doch zweifelsfrei um einen Abfall korb, in dem aussortierte Pergamentbögen zur sekundären Verwendung (etwa für Bucheinbände) gesammelt wurden. Die von Uspenskij entdeckten Fragmente sowie das erst im September 2009 im Kloster identifizierte jüngste Codexblatt belegen diese Form der Verwertung hinreichend. Die Schenkung der 1859 entdeckten Blätter an Zar Alexander II. referiert P. anhand der 2007 veröffentlichten Dokumente: Trotz aller diplomatischen Verwirrungen und internen Turbulenzen ist die Schenkung selbst korrekt verlaufen; von einem Diebstahl sollte künftig keine Rede mehr sein. Kapitel 10 (Beyond the Monastery) wirft einen Blick auf die Nachgeschichte jener Turbulenzen, im Besonderen auf die Affäre um den Handschriftenfälscher Simonides (P.: »a scene from comedy«) und das Schicksal des Codex nach der Russischen Revolution. Damit bleibt für Kapitel 11 (Codex Sinaiticus Comes to Town) der letzte Akt vorbehalten, der den Erwerb des Codex durch das Britische Museum im Dezember 1933 zum Inhalt hat. Den Abschluss bildet in Kapitel 12 (The Virtual Codex Sinaiticus) ein kurzer Report über die Geschichte des Digitalisierungsprojektes (2005–2009), den P. aus erster Hand zu schreiben und mit den eigenen Erfahrungen detailreich zu illustrieren vermag. Darauf folgt ein Appendix, der in die Benutzung der Website einführt und damit von der literarischen Bekanntschaft zur virtuellen Begegnung mit dem Codex überleitet. Zwei Indizes schließen das Buch ab.
Dem kostbaren Gegenstand leistet das Buch auch in ästhetischer Hinsicht durch eine gediegene Ausstattung die schuldige Referenz: 16 qualitativ hochwertige Farbaufnahmen präsentieren Bilder zur Geschichte des Klosters und des Codex sowie neue, eigens für diesen Band angefertigte Reproduktionen einzelner Blätter oder Schriftproben. Jedes Kapitel wird von einem Blatt mit einer dekorativen Verzierung aus dem Codex eröffnet. Für das vordere Vorsatzblatt ist eine Doppelseite ausgewählt, die Ps 133–136 prä sentiert; bewusst programmatisch für die Arbeit des Projektes beginnt der dortige Text mit dem bekannten Vers: »Siehe, wie schön und angenehm ist es, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen.«
Wer bislang der Auffassung war, die Textkritik sei eine trockene Angelegenheit, sieht sich durch dieses Buch eines Besseren belehrt. Zum Lesevergnügen gesellt sich ein Informationsstand hinzu, der das Buch für das 21. Jh. zu einem ebensolchen Referenzwerk in Sachen Codex Sinaiticus macht, wie es das Buch von Milne und Skeat für das 20. Jh. war.