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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

168–169

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Losekam, Claudia

Titel/Untertitel:

Die Sünde der Engel. Die Engelfalltradition in frühjüdischen und gnostischen Texten.

Verlag:

Tübingen/Basel: Francke 2010. VI, 401 S. 22,0 x 15,0 cm = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 41. Kart. EUR 78,00. ISBN 978-3-7720-8001-2.

Rezensent:

Veronika Bachmann

Claudia Losekam greift in ihrer Dissertation über den Engelfall in frühjüdischen und gnostischen Schriften (hier in überarbeiteter Fassung vorliegend) ein Thema auf, dem in den letzten Jahren wieder generell mehr Beachtung geschenkt wurde (vgl. die Monographie A. Y. Reed, Fallen Angels and the History of Judaism and Chris­tianity. The Reception of Enochic Literature, New York 2005, oder den Sammelband Ch. Auffarth/L. T. Stuckenbruck [Hrsg.], The Fall of the Angels. Themes in Biblical Narrative 6, Leiden/Boston 2004). Dass von der Promotion im Wintersemester 2002/2003 an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Univer­sität Heidelberg bis zur Publikation einige Jahre vergangen sind, ist in diesem Fall als Gewinn zu werten. L. nutzte die Gelegenheit, um auch die jüngsten Forschungsarbeiten zum Thema noch einzuarbeiten.
L.s Untersuchung der Engelfalltradition nimmt ihren Ausgangspunkt bei Gen 6,1–4, der biblischen Episode über die Göttersöhne/םיהלאה־ינב, die sich Menschenfrauen nahmen und mit ihnen Kinder zeugten (die Satansturztradition bleibt in der Folge grundsätzlich davon abgegrenzt). Der Schwerpunkt ihrer traditionsgeschichtlichen Studie zur Art und Weise, wie diese Gene­-sispassage in frühjüdischen, frühchristlichen und gnostischen Schriften rezipiert worden ist, liegt dabei klar auf den gnostischen Texten. Die rahmende Grundfrage lautet denn auch, ob die weit verbreitete, pauschale Charakterisierung gnostischer Bibelexegese als »Protestexegese« haltbar oder zu korrigieren sei. Die Engelfallrezeption, die inhaltlich im Zentrum steht, fungiert in diesem Sinne als Testfall.
In ihrer Einleitung bietet L. neben Ausführungen zum Forschungsstand und zur Methode einen Überblick über das gnostische Schrifttum, der insbesondere für ein Lesepublikum, das mit gnostischem Ideengut wenig vertraut ist, hilfreich sein dürfte. Bevor sie in der zweiten Hälfte ihres Buches die gnostischen Originaltexte in den Blick nimmt, wendet sie sich in der ersten Buchhälfte vorerst der Genesispassage zu. Darauf widmet sie sich den Apokryphen und Pseudepigraphen, allen voran dem Wächterbuch (äthiopischer Henoch bzw. 1Henoch 1–36) und dem Jubiläenbuch. Die ausführliche Diskussion dieser beiden Schriften erweist sich spätestens im Fortgang der Untersuchung als wertvoll. Dort zeigt sich, dass zahlreiche spätere Texte insbesondere die Motivverar-beitung im Wächterbuch aufgegriffen oder weitergeführt haben. Anders als der Genesistext deutet das Wächterbuch die Vermischung der himmlischen Wesen mit Menschenfrauen explizit negativ (streng gesehen wird es erst hier möglich, in übertragenem Sinn von einem »Fall« zu sprechen) und lastet den Engeln darüber hinaus das Vergehen an, den Menschen unheilvolles Wissen vermittelt zu haben. Relativ knapp geht L. sodann auf die Rezeption bei Philo von Alexandrien und bei Josephus ein und diskutiert schließlich die Aufnahme der Engelfalltradition in neutestamentlichen (Jud; 2Petr) und rabbinischen Schriften. In Bezug auf Letztere beobachtet L. »eine Vorliebe für die Engelfalltradition fast ausschließlich in späteren, mittelalterlichen Midraschim« (150). Dabei hebt sie den mittelalterlichen Midrasch von Schemchazai und Azael hervor, der i. E. als »strukturelle Parallele jüdischer Auslegung zur gnostischen« (ebd.) der Frage nach der gegenseitigen Be­einflussung neue Brisanz verleiht.
In ihrem Hauptteil zur gnostischen Rezeption geht L. hauptsächlich auf die drei Schriften »Apokryphon des Johannes«, »Hypostase der Archonten« und »Vom Ursprung der Welt« ein, die alle drei in den Nag-Hammadi-Codices bezeugt sind. Indem sie bei jeder der untersuchten Textpassagen konsequent nach Form und Funktion der jeweiligen Engelfallrezeption fragt, gelingt es ihr, die Vielgestaltigkeit gnostischer Bezugnahmen sowohl auf Gen 6,1–4 als auch auf frühjüdische Varianten dieser Erzählung aufzuzeigen. Dadurch erhärtet sich ihr eingangs geäußerter Verdacht, dass die pauschale Rede von gnostischer »Protestexegese« – jedenfalls in Bezug auf die Rezeption von Gen 6,1–4, wie man anfügen müsste – unangemessen ist. Laut L. konnten gnostische Verfasserkreise auf die Engelfalltradition als »Applikationsvorlage zur Umschreibung des Tuns der Archonten und Mächte, die die irdisch-materielle Welt beherrschen und die Gnostiker verfolgen« (355) zurückgreifen. Damit knüpften sie grundsätzlich an ältere frühjüdische Texte an, die, wie es L.s Buch illustriert, ebenfalls anhand der noch offen formulierten biblischen Passage zu problematisieren begannen, was das Böse eigentlich ist, wie es sich unter den Menschen verbreiten konnte, welche Auswirkungen es hat und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
L. postuliert bewusst keine lineare Entwicklungshypothese, sondern beschränkt sich auf die Darstellung unterschiedlicher, bisweilen parallel, bisweilen konträr zueinander verlaufender Re­zeptionsentwicklungen. Damit konfrontiert sie die Leserschaft mit einer Vielzahl von Rezeptionsmustern, die diese sozusagen selbst zu verdauen hat. Umgekehrt erschließt sie dem Lesepublikum gerade dank dieser Darstellungsweise beispielhaft den Reichtum einer Motiventfaltung und weist indirekt auf die Gefahr hin, ein verzerrtes Gesamtbild zu evozieren, wenn traditionsgeschichtliche Entwicklungen auf spezifische Textkorpora oder religiöse Traditionen beschränkt untersucht werden. Mit ihrer Studie schafft es L. denn auch, die gern als häretischer »Sonderfall« abgehandelte oder gar ausgeklammerte Gnosis als Bewegung ins Be­wusstsein zu ru­fen, die, wie viele andere Bewegungen ihrer Zeit auch, darum be­müht war, historisch überliefertes Gedankengut (in diesem Fall jüdischer, christlicher und griechisch-hellenistischer Provenienz) in einen aussagekräftigen Dialog mit zeitgenössischen Vorstellungen zu bringen. Kritisch lässt sich anmerken, dass gerade für ein breiteres interessiertes Publikum die allgemeinen Ausführungen zur Gnosis – wie etwa auch zu Philo, dessen allegorische Interpretation des Engelfalls sich deutlich von den mythischen Motiventfaltungen abhebt –, sehr knapp ausfallen. Schließlich hätte sich das Erstellen eines eigenen Abkürzungsverzeichnisses und vor allem eines Stellenregisters gelohnt.