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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

161–164

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Peter

Titel/Untertitel:

The Origins of Jewish Mysticism.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XV, 398 S. gr.8°. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-149931-9.

Rezensent:

Beate Ego

Die Frage nach den Ursprüngen der Vorstellungswelt der frühen jüdischen Mystik beschäftigt die Forschung seit langer Zeit. Eine zentrale These, die bereits in dem epochalen Werk Gershom Scholems »Major Trends in Jewish Mysticism« (1941; deutsch: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen [1957]) geäußert wurde, führt von den antikjüdischen Pseudepigraphen zu der sog. Hekhalot-Literatur, deren textliche Überlieferung in die Spätantike zu datieren ist. Neuere Arbeiten (so z. B. Philip Alexander oder Rahel Elior) verweisen in diesem Kontext mit Nachdruck auf Überlieferungen wie die Sabbatopferlieder aus Qumran. Um diese Fragestellung zu erhellen, setzt die hier von Peter Schäfer vorgelegte Untersuchung im Anschluss an eine allgemeine Einführung zur Thematik und Begrifflichkeit bei der Überlieferung des Buches Ezechiel und dessen Thronwagenvision ein. Die zentrale Botschaft dieses Textes ist im Exil zu situieren; sie lautet, dass Gott auch trotz des zerstörten Tempels bei seinem Volk gegenwärtig ist. Der gesamte Kosmos kann nun als der Tempel Gottes gelten (34–52).
Das zweite Kapitel des Buches widmet sich der frühen Henochüberlieferung, für die das Motiv der Himmelsreise von entscheidender Bedeutung ist. Dies bedeutet eine wichtige motivgeschichtliche Veränderung, die im Folgenden von großer Bedeutung sein soll. Henoch sieht die Gottheit lediglich hinter einem Vorhang von Feuer; das Ziel seiner Reise besteht in einer Audition, die den gefallenen Wächterengeln die ewige Verdammnis verkündet. S. plädiert an dieser Stelle dafür, dass es sich hier um eine implizite Tempelkritik handelt, die mit der Verunreinigung des irdischen Tempels in Jerusalem zusammenhängt. Ein neues Motiv erscheint auch in den Bilderreden des Äthiopischen Henoch (1Hen 37–71) sowie im Slawischen Henoch (2Hen), wenn Henoch nun in ein Engelswesen verwandelt wird (53–84). Im dritten Kapitel des Buches wird gezeigt, wie sich das Motiv der Himmelsreise im Folgenden mit weiteren Figuren wie Abraham, Jesaja, Zephania oder auch dem Seher Johannes verbindet (86–111). Kapitel 4 untersucht die Überlieferungen aus Qumran, die wegen ihrer Verwendung des Motivs vom himmlischen Gottesdienst in der Forschung häufig der frühen jüdischen Mystik zugeordnet werden. Hier beteilig tsich S. auch an der vieldiskutierten Frage nach der Funktion der Sabbatlieder. Dabei wird der häufig vertretenen These einer Kultus­gemeinschaft von Engeln und Menschen widersprochen; die Funktion der Sabbatlieder läge vielmehr darin, die Engel mit dem Lobaufruf zum Opfer aufzufordern, um so einen Ersatz für das Opfer im Jerusalemer Tempel zu schaffen, das nach der Auffassung der Qumran-Gemeinschaft verunreinigt ist. Das Motiv der Gottesschau spielt – so S. – in diesen Überlieferungen nur eine marginale Rolle. Hinweise auf die Vorstellung eines Aufstiegs in die himm­-lische Welt finden sich in diesen Überlieferungen nicht (112–153).
Bei dem jüdischen Philosophen Philo, mit dem sich S. im fünften Kapitel seines Werkes beschäftigt, findet sich unter dem Einfluss platonischer Vorstellungen erstmals in der jüdischen Überlieferung der Gedanke einer Trennung von Körper und Seele. Die Seele kann noch zu Lebzeiten eine Himmelsreise unternehmen und sich sogar in eine Art »divine essence« verwandeln, so dass man hier sogar den Begriff der Divination anwenden kann (154–174). Die beiden folgenden Kapitel widmen sich der Rezeption der Ezechielschen Thronwagenvision in der rabbinischen Literatur. Hier un­tersucht S. die häufig als »mystisch« klassifizierten Texte der rabbinischen Literatur, nämlich die mehrmals tradierte Überlieferung von den vier rabbinischen Gelehrten, die den Garten (hebr. pardes) betraten. Dabei wendet sich S. dezidiert gegen die Kontextualisierung dieser Überlieferungen im Zusammenhang mit ekstatischen Erfahrungen; vielmehr beziehen sich die Überlieferungen primär auf die Gefahren unsachgemäßer Schriftauslegung (175–242). Das Werk schließt mit einer ausführlichen Besprechung der Überlieferungen aus der Hekhalot-Literatur, wobei S. die einzelnen Makroformen »Hekhalot Rabbati«, »Hekhalot Zutarti«, »Shi‘ur Qoma« und »3Henoch« mit den in ihnen inhärenten Motiven im Einzelnen analysiert. Für »Hekhalot Rabbati« betont er die Bedeutung einer unio liturgica des Adepten mit den Engeln im himmlischen Gottesdienst. Trotz der Zerstörung des Jerusalemer Tempels ist Israel die Liebe Gottes gewiss. Hekhalot Zutarti wiederum stellt den magischen Gebrauch des göttlichen Namens ins Zentrum. Auch im Hinblick auf die Interpretation der Shi‘ur-Qoma-Texte spielt für S. das Motiv der Gottesschau eine nur marginale Rolle; im Zentrum dieser Überlieferungen stehe vielmehr das Wissen um die Namen der einzelnen Gliedmaßen der göttlichen Gestalt und deren magische Verwendung. Schließlich wendet sich S. noch 3Henoch mit der Überlieferung von Henochs Verwandlung in den Engel Metatron zu. Hier besteht S. auf der Spätdatierung des Textes und sieht die Überlieferung als Reaktion und Antwort auf die neutestamentliche Botschaft von Jesus Christus als göttlichem Wesen, das zur Rechten Gottes sitzt (243–330).
Den Überlieferungen der frühen jüdischen Mystik am nächsten sind – so S. in seinem abschließenden Kapitel – am ehesten die Aufstiegsapokalypsen aus der Zeit des Zweiten Tempels, wobei die Funktion des Aufstiegs nicht in der Gottesschau selbst liegt (der in der Regel nur ganz marginale Bedeutung zukommt), sondern in einer Gottesrede offenbart wird. In diesen Überlieferungen, und nicht wie häufig in der Forschung postuliert, in den Sabbatliedern aus Qumran, finden sich die engsten Entsprechungen zur Hekhalotliteratur, wobei nun der Aufstieg des Adepten als solcher zunehmend an Bedeutung gewinnt, dessen Ziel dann die unio liturgica darstellt. Das zentrale Element dieser Überlieferungen ist weder die Gottesschau noch eine Transformation bzw. Deifikation des Adepten, sondern vielmehr die Botschaft der beständigen Liebe Gottes zu seinem Volk: »Of course, in the Hekhalot literature there is no trace of the classical notion of God’s immanence on earth. This has become impossible, because the (Second) Temple has been destroyed and because it does not appear as if God will be able to return to his earthly temple quite soon. But this is precisely the message: that God, enthroned in the Holy of Holies of his heavenly Temple in the seventh heaven, this ›transcendent‹ God, can still be approached – to be sure, by only a few chosen mystics, but he can indeed be approached, and the gulf between him and his creatures can be bridged. God’s transcendence turns into a new and unexpected immanence« (345).
Besondere Aufmerksamkeit kommt bei dem Verlust des Tempels den historischen Umständen zu, in denen im Zusammenhang mit der Etablierung der christlichen Kirche immer deutlicher wurde, dass an eine baldige Wiedererrichtung des Tempels nicht zu denken sei. Mit Nachdruck macht S. deutlich, dass von den Texten der Hekhalot-Überlieferung mitnichten auf konkrete mystische Erfahrungen geschlossen werden kann. Die Sicht der Qumranüberlieferungen mit ihrer Tempelkritik unterscheide diese deutlich von der Hekhalot-Literatur. Die mystischen Überlieferungen, so der Schluss der Arbeit, haben oft das Ziel, die verlorene Beziehung mit dem Göttlichen wiederherzustellen: »So at the stake of our sources – a wide range of discrete forms and im­plementations notwithstanding – is the attempt to get (back) to God as close as possible, to experience the living and loving God, despite the desolate situation on earth with all its shortcomings and catastrophes« (353). Eine eindeutige traditionsgeschichtliche Linie, die mit Ezechiel beginnt und mit den Hekhalot-Texten endet, lässt sich freilich nicht ziehen. So löst S. am Ende seines Werkes die Frage nach den traditionsgeschichtlichen Ursprüngen gleichsam auf und verwendet den Begriff der »origins« in einem eher theologisch-anthropologischen Sinn.
S. hat ein eindrückliches Werk vorgelegt, das einen hervorragenden Überblick über all jene Traditionen und Überlieferungen gibt, die im Zusammenhang mit der Entwicklung der jüdischen Mystik stehen, wie sie uns in der Hekhalot-Literatur vorliegen. Sehr zu begrüßen sind u. a. die differenzierten Darlegungen zum Motiv einer Kultusgemeinschaft, die S. in seinen Ausführungen zu den Überlieferungen aus Qumran präsentiert und die durch eine genaue Lektüre der einschlägigen Texte bestechen, sowie die Würdigung der engen Berührungen zwischen den frühjüdischen Pseudepigraphen und den Hekhalot-Texten. Auch die Kontextualisierung der frühen jüdischen Mystik in einer Welt, in der das Christentum zu­nehmend an Bedeutung gewinnt und das Judentum immer mehr in die Defensive gerät, ist ein interessanter Ansatz, der sich zum Teil auch auf der Basis rabbinischer Texte untermauern lässt.
Zu den Anfragen, die an dieses Werk gestellt werden können, wird sicherlich die Bedeutung des Motivs der Gottesschau und S.s Zurückweisung des Erfahrungsbezugs der Texte gehören. Dass es für die Hekhalot-Überlieferungen nicht die eine traditionsgeschichtliche Linie gibt, liegt auf der Hand; zu überlegen wäre aber doch, inwieweit die liturgische Motivik doch eine relativ nahe Entsprechung in den Überlieferungen aus Qumran hat. Auch kann aus dem Aufruf an die Himmlischen nicht unbedingt darauf geschlossen werden, dass die Funktion der Sabbatlieder darin besteht, die Engelswelt zu einem himmlischen Opfer zu motivieren, das dann den irdischen Gottesdienst zu ersetzen vermag. Hier wäre zu überlegen, inwieweit man nicht formgeschichtlich stärker auf den Lob aufruf aus der Psalmensprache rekurrieren müsste. Schließlich mag man fragen, warum wichtige deutschsprachige Publikationen zu Ezechiel oder zu den Henochüberlieferungen (z. B. Friedhelm Hartenstein, Christfried Böttrich oder Siegbert Uhlig) bei den Ausführungen von S. gar keine Rolle spielen.
Da S. seine umfangreichen Ausführungen mit ihren pointierten Thesen breit und erfrischend klar präsentiert, kann das Werk als ein Markstein in der Erforschung der frühen jüdischen Mystik gelten, der gleichzeitig auch als Katalysator für die künftige Erforschung der frühen jüdischen Mystik fungieren kann. Man darf auf jeden Fall auf die Rückfragen an die hier präsentierten Thesen und weitere Arbeiten zur jüdischen Mystik gespannt sein.