Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

159–161

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Rosenblum, Jordan D.

Titel/Untertitel:

Food and Identity in Early Rabbinic Judaism.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2010. XIV, 223 S. 22,8 x 15,2 cm. Geb. £ 50,00. ISBN 978-0-521-19598-0.

Rezensent:

Friedrich Avemarie

Wer bestimmte Speisen meidet, kann das aus verschiedenen Gründen tun: Sie schmecken nicht oder bekommen nicht, die Ärztin hat sie verboten, Tiere sollen nicht leiden, und es kann auch mit ethnischer Identität zu tun haben. Mitunter ist von Speisesitten die ethnische Selbst- und Fremdwahrnehmung sogar wesentlich be­stimmt: »You are what you eat« (6.35.74, mit dem Truthahn zu Thanksgiving, french fries und hamburgers als eingängigen Beispielen; für Europa könnte man noch frogs und krauts nennen). Die vorliegende Arbeit, die auf Jordan D. Rosenblums Dissertation bei Michael Satlow, Brown University, zurückgeht, untersucht, wie das frühe rabbinische Judentum durch Tischpraxis Identität konstruiert.
Sie versteht ihren Ansatz als »synchronic historical« (188) und konzentriert sich auf die tannaitische Literatur, die sie insgesamt als homogenes Korpus anspricht (Mischna, Tosefta, halachische Midraschim; zum Problem der Baraitot, 111), bezieht aber auch biblische und vorrabbinisch-jüdische Texte ein, um auf Entwick­lungen und rabbinische Neubildungen aufmerksam zu machen, und sieht in einer entsprechenden Untersuchung amoräischer Traditionen ein Desiderat (111, Anm. 25). Den Kern bilden drei un­gleich lange Teile, die das Thema sukzessive eingrenzen: Zunächst geht es um die Konstruktion einer jüdischen Identität, dann um die einer männlich-jüdischen und schließlich um die einer rabbinisch-männlich-jüdischen, in Abgrenzung von nichtjüdischer, weiblich-jüdischer und häretisch-jüdischer Identität. Zur Illus­tration werden jeweils einschlägige Themenfelder wie Schweinefleisch, Kasch­rut, das Schächten, gemeinsames und überwachtes Kochen, Tischgemeinschaft, das Gegensatzpaar Chaver und Am ha-Aretz, Passamahl, Sabbat und anderes abgeschritten. Auch wenn man nicht erwarten darf, dass die relevante Quellenbasis insgesamt er­schöpfend repräsentiert ist, werden doch zahlreiche ausführliche Zitate und noch mehr Fußnotenhinweise geboten; nur die Analyse der zitierten Texte hätte zuweilen sorgfältiger ausfallen dürfen. Ebenso breit wird Forschung referiert; die Arbeit vermittelt so ein eindrückliches Bild von der Fruchtbarkeit der anglophonen Ju­dais­tik der letzten zwei Jahrzehnte. Die Sprache gibt zuweilen der Suggestivität den Vorzug vor der Präzision, was das Verstehen etwas erschwert; an Manierismen wie »metonymic food« und »edible identity« gewöhnt man sich aber rasch; jenes meint die gruppenspezifisch identitätsstiftende Speise (vgl. 45), dies die im Verzehr manifestierte Zugehörigkeit.
Dass jüdische Speisepraxis der Identitätsstiftung dient, wird nicht begründet, sondern postuliert (bes. 35) und anhand der referierten Quellen lediglich erläutert. Plausibel wird die These zwar auch so, doch alternative Erklärungsmöglichkeiten, wie der theologische Rekurs auf den göttlichen Gesetzgeber oder die ideologiekritische Vermutung, dass sich in Restriktionen Macht verfestigt, können so nur am Rande in den Blick treten (9.105 f.). Über die historischen Hintergründe einzelner Vorschriften werden gelegentlich Vermutungen geäußert, sie bleiben aber unsystematisch: Das Verbot, in Synagogen zu essen, spiegelt wider, dass es faktisch getan wurde (178 f.); Maßregeln gegen einen Ehemann, der seiner Frau den Besuch von Trauer- oder Hochzeitsfeiern verbietet, erlauben dagegen nicht den Schluss, dass es gemischtgeschlechtliche Mahlzeiten gab (126); wieder andere Bestimmungen sind rein »scholastischer« Natur (65 u. öfter); der jüdische »Häretiker« ( min) ist ein »rhetorical construct« (155).
Im Detail bringt die Arbeit viel Interessantes und Überzeugendes. Im Blick auf das Neue Testament scheint mir besonders die Beobachtung wichtig, dass die Tannaiten unter dem Gesichtspunkt der Verunreinigung nur die Tischgemeinschaft von observanten mit nicht-observanten Juden problematisieren, nicht die von Juden mit Nichtjuden, bei der vielmehr der Götzendienst als Bedrohung empfunden wird (143 f.); für das Verständnis von Gal 2,12 und Apg 11,1–3 könnte das erhebliche Konsequenzen haben. Bedeutsam auch die Erkenntnis, dass die vielen Einschränkungen im Verkehr zwischen Juden und Nichtjuden bzw. Observanten und Nichtobservanten nicht auf die Unterbindung von Kontakten zielen, sondern im Gegenteil darauf, sie bei gewahrter halachakonformer Identität zu ermöglichen (90.149). Überraschend schließ lich, wie unterschiedlich nichtjüdische und häretisch-jüdische Identität bewertet werden können: Die durch Nichtjuden vollzogene Schächtung gilt nur als untauglich, die eines Häretikers dagegen als Götzendienst (tHul 1,1), denn »technisch« wäre der Häretiker zu einer tauglichen Schächtung offenbar in der Lage (157).
Unbefriedigt lässt, von Kleinigkeiten abgesehen, nur das Kapitel über die männlich-jüdische Identität. Dass die Tannaiten, als rein männliche Bildungselite, von Frauen vornehmlich reden, um die eigene männliche Identität zu definieren, mag vielleicht zutreffen (106 f., passim). Dass diesem Zweck aber auch die gelegentliche Erwähnung von Frauen in Speisevorschriften dient, lässt sich dem beigebrachten Material kaum pauschal entnehmen. Dass sich jüdische Männer anders ernähren als jüdische Frauen, wird jedenfalls nirgends behauptet oder gefordert. In mGit 5,9 etwa, wo es um die Hilfe geht, die die Frau eines Chaver und die eines Am ha-Aretz einander bei der Küchenarbeit leisten (117 f.), stehen die jeweiligen Ehemänner zwar fraglos mit im Blick (was die ledige Frau zu tun hat, wird ja nicht gefragt), aber der identitätsrelevante Unterschied ist hier nicht der zwischen Frau und Mann, sondern der zwischen Chaver und Am ha-Aretz.
Dass einige der geäußerten Thesen noch weiteren Nachdenkens bedürfen, tut allerdings dem Gewinn, den dieses ausgesprochen anregende und lesenswerte Werk für die Forschung bedeutet, keinen Abbruch.