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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

45–48

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Erlemann, Kurt

Titel/Untertitel:

Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament. Ein Beitrag zur Frage religiöser Zeiterfahrung.

Verlag:

Tübingen- Basel: Francke 1995. XV, 511 S. gr.8o = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 17. geb. DM 120,­. ISBN 3-7720-1868-8.

Rezensent:

Walter Schmithals

Die vorliegende Arbeit greift weiter aus, als der Titel angibt. Denn nach einer Einleitung, die in das vom Thema benannte Problem einführt und methodische Hinweise gibt, stellt der Vf. dieser Heidelberger Habilitationsschrift in deren 2. Abschnitt (53-122) zunächst die ’Naherwartung im Alten Testament und in der frühjüdischen Literatur’ dar. Dann folgt der ausführliche ntl. Teil, dem die kanonische Reihenfolge der Bücher zugrunde liegt und der in zwei Abschnitte gegliedert ist, nämlich ’3. Naherwartung und Parusieverzögerung in Neuen Testament: Textanalyse’ (123-252), eine Darstellung und forschungsgeschichtlich angemessen fundierten Analyse aller Stellen, die sich nach Auffassung von Erlemann auf Naherwartung oder Parusieverzögerung beziehen, sowie ’4. Die Funktionalität der neutestamentlichen Naherwartung’ (253-296). Im 5. Abschnitt folgt die Darstellung von ’Naherwartung und Parusieverzögerung in der frühchristlichen Literatur’ (297-366), ein rascher Durchgang durch das Schrifttum von drei Jahrhunderten, angefangen von den Apostolischen Väter über die neutestamentlichen Apokryphen einschließlich der gnostischen Evangelien bis hin zu den frühen Kirchenvätern; mit der Zeit Konstantins läuft diese Darstellung aus. Der letzte Abschnitt: ’6. Systematische Schlußbetrachtung’ (367-432) faßt die Ergebnisse der Untersuchung zusammen. Da E. schon zuvor nach einzelnen Unterabschnitten entsprechende ’,Zwischenergebnissse’ mitgeteilt und außerdem jeden Hauptabschnitt mit einer ’Auswertung’ abgeschlossen hatte, hat der Leser keine Mühe, sich Intention und Ertrag des Buches zu vergegenwärtigen. S. 434-511 enthalten das Literaturverzeichnis und die Register.

Aus den Ergebnissen der Arbeit hebe ich wichtige hervor.

1. Naherwartung und Parusieverzögerung bilden keine Alternative. Der Begriff der ’Nähe’ ist relativ und im Rahmen der sich dehnenden Zeit elastisch. Darum wird auch die ’Verzögerung’ als solche nur selten zu einem ausdrücklichen Thema.

2. Das menschliche Zeitempfinden in biblischer Zeit ist ’subjektiv’, nämlich affektiv-emotional und nicht mit dem physikalischen Zeitbegriff der Neuzeit gleichzusetzen. Es ist zugleich von dem ’objektiven’ göttlichen Zeitmaß zu unterscheiden.

3. Naherwartung kennzeichnet die Einstellung gesellschaftlicher Randgruppen und kommt vor allem in Zeiten auf, in welchen den betroffenen Menschen der Leidensdruck unerträglich erscheint. Sie kann bis zur Euphorie führen und gibt in jedem Fall neuen Antrieb, die Gegenwart auszuhalten und der Zukunft entgegenzugehen.

4. Naherwartungsaussagen haben im übrigen ebenso wie der Verweis auf die durch die eingetretene Verzögerung noch eingeräumte Zeit vor allem die Funktion, den Ernst einzuschärfen, mit dem man die letzte Frist zu nutzen hat. Sie ’manipulieren’ insofern das menschliche Zeitempfinden und sie finden sich in der Regel im Rahmen einer ’konservativen’ Paränese, für die eine ethische Erneuerung dieser Welt nicht erschwinglich ist.

5. Kosmisch-universale (Nah)erwartung und individuelle Erwartung des zukommenden Heils stehen unverbunden nebeneinander und gehören nicht sich ablösenden Entwicklungsstufen an.

6. Die existentiale Interpretation der mythischen Naherwartung hat das Verdienst, den Bezug dieser Erwartung auf die gegenwärtige Existenz herausgestellt zu haben. Sie unterschätzt indessen den futurischen Aspekt des apokalyptischen Denkens.

Man wird diesen Ergebnissen im wesentlichen zustimmen können, wird in ihnen freilich auch nicht viel Neues entdecken. Problematisch erscheint dagegen die ihnen übergeordnete Ansicht, das ’neue Geschichtsverständnis’, das mit einer Dauer der Zeit rechnet, habe sich erst in der konstantinischen Ära durchgesetzt. "Von einer allmählichen, aber konstanten Entapokalyptisierung, vom allmählichen Übergang von Nah- zu Stets- und Fernerwartung kann nicht die Rede sein" (416). An diesem Urteil dürfte richtig sein, daß von einer konstanten Entwicklung nur begrenzt gesprochen werden kann. Und ich stimme Erlemann auch gerne zu, wenn er bestreitet, daß sich bei Paulus eine Entwicklung von apokalyptischer Naherwartung der Parusie über deren Preisgabe zu einer hellenistisch bestimmten Eschatologie hin feststellen läßt. Indessen mangelt es m. E. dem durchgehenden Versuch E.s, in sämtlichen Schriften der frühchristlichen Zeit ein im Prinzip einheitliches Verständnis von Naherwartung und Parusieverzögerung nachzuweisen, an den notwendigen Differenzierungen.

Es ist schon auffällig, daß E. die Weisheit und die Gnosis in seine Untersuchung einbezieht. Aber wenn er den von der Weisheit reflektierten ’plötzlichen Tod’ unter ’Naherwartung’ verortet und eine Spiritualisierung und Entzeitlichung in der Gnosis bestreitet, weil deren Kosmos sich am Ende in Nichts auflöse, vernachlässigt er die notwendigen religionsgeschichtlichen Differenzierungen.

Im ntl. Hauptteil weist schon die Tatsache, daß E. einfach der kanonischen Anordnung folgt, darauf hin, wie wenig er gewillt ist, historisch differenzierend zu analysieren. Zwar kann er gelegentlich historische Beobachtungen zur Hilfe nehmen, um bestimmte Texte seiner nivellierenden Sicht einzuordnen. So sollen die Pastoralbriefe eine Situation spiegeln, "in der eine Argumentation mit der Nähe der Parusie nicht sinnvoll erscheint" (217). Für den Epheserbrief aber ist das explizit fehlende Endzeitbewußtsein einfach "vorauszusetzen". Das Johannesevangelium wird unkritisch als Einheit gelesen und im Lichte seiner futurisch-eschatologisch Aussagen interpretiert. Für Lukas genügt das Zitat aus Joel 3,1 in Apg 2,17 als Ausweis dessen, daß auch für ihn die Naherwartung nicht aufgehoben ist.

Bei solchen und ähnlichen Urteilen stellt sich der Verdacht ein, man begegne bloßen Vorurteilen. Aber auch in den Fällen, wo Naherwartung deutlich bezeugt ist, wünschte man sich, E. hätte nicht nur allgemein auf die ’Funktionalität’ der entsprechenden Aussagen hingewiesen, sondern seine Argumentation stärker auf die historischen Umständen und die literarischen Verfassungen der jeweiligen Schriften bezogen, um die wechselnde Bedeutung der einzelnen Passagen methodisch überzeugend zu erhellen.

Vor allem aber befremdet, daß der Vf. den Gegenstand seiner Untersuchung nicht in Beziehung zu Christologie und Soteriologie setzt, um von da aus den ’Stellenwert’ ­ ich benutze einen von E. mit ermüdender Ausdruckslosigkeit immerfort ge-brauchten Begriff ­ der eschatologischen Erwartung zu bestimmen. Schon der Übergang von der Botschaft Jesu, die E. auch nach meiner Überzeugung mit Recht im wesentlichen im Bereich einer apokalyptischen Naherwartung der Gottesherrschaft ansetzt, hin zu Osterglauben und Christusbekenntnis wird von ihm nicht erörtert, und die vielen christologischen und soteriologischen Formeln und Texte spielen zumindest in ihrer vorliterarischen Überlieferung auch hinsichtlich ihrer vorhandenen oder fehlenden Beziehung zu Naherwartung und Parusie in der vorliegenden Habilitationsschrift keine Rolle. Wo deren Vf. beiläufig auf das Christusereignis selbst zu sprechen kommt ­ "Überhaupt ist der Stellenwert der Naherwartung nicht im Sinne der ’konsequenten Eschatologie’ überzubetonen" (299) ­ ’ wird dieses in das eigenen Konzept verrechnet, insofern es "die Nähe des Endes impliziert" (416). "Die Orientierung am bereits Geschehenen macht Naherwartung nicht obsolet, im Gegenteil: Die Bewertung des Christusgeschehens als endzeitliches, einmaliges Heilsereignis führt zur Naherwartung erst hin" (422). Es mag von Fall zu Fall so sein und müßte dann exegetisch nachgewiesen werden. Das alle Unterschiede tunlichst einebnende Vorurteil, Christologie und Soteriologie seien nur kleine Schritte auf dem Weg zu Naherwartung und Parusie, blendet indessen jenen fundamentalen Bereich der Theologie aus, von dem her ein wie auch immer differenziertes Verständnis des ’Stellenwertes’ von Naherwartung und Parusieverzögerung allererst möglich wird. Daß es Christologie und Soteriologie gewesen sein könnten, die das christliche Zeitverständnis wesentlich geprägt und damit auch ermöglicht haben, das Problem der enttäuschten Naherwartung zu entschärfen, spielt in E.s Überlegungen keine Rolle.

Somit hinterläßt die vorliegende Untersuchung einen zwiespältigen Eindruck. Sie zeugt von Fleiß, ist materialreich und kommt im Blick auf ihr eng gefaßtes Thema im einzelnen zu ansprechenden Ergebnissen, die auch einladen, das Phänomen der Naherwartung aktuell zu bedenken. Der methodische Zugriff kann dagegen nicht überzeugen; er läßt nur noch wenig von jenem bedachtsamen Umgang mit der Überlieferung erkennen, den man einst in Heidelberg lernte, sondern bezeugt in seinem Mangel an historischer Differenzierung im eigentlichen Sinn ’Oberflächigkeit’.