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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

157–159

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Pastor, Jack, Stern, Pnina, and Menahem Mor[Eds.]

Titel/Untertitel:

Flavius Jo­sephus. Interpretation and History.

Verlag:

Leiden/Boston: Brill 2011. XIII, 437 S. m. Abb. 24,0 x 16,0 cm = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 146. Lw. EUR 140,00. ISBN 978-90-04-19126-6.

Rezensent:

Oliver Gußmann

Früher hat man die Werke des antiken Historikers Flavius Josephus (37 – ca. 100 n. Chr.) in eher positivistischer Weise so gelesen, als habe er verschiedene Quellen einfach kompiliert, mit denen er geschichtliche Ereignisse belegen konnte. Erst seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts rücken der von Interessen geleitete Um­gang des Josephus mit seinen Quellen und seine Erzählstrategie in den Fokus der Josephusforschung. Außerdem werfen neue Er­kenntnisse der Archäologie aus hellenistisch-römischer Zeit ein neues Licht auf den Umgang des Josephus mit Topographie und Kultur.
Das vorliegende Buch ist das Ergebnis einer internationalen Konferenz an der Universität Haifa vom 2. bis 6. Juli 2006, die das Thema »Making History: Josephus and Historical Method II« hatte. Die breit angelegte Thematik schließt an ein früheres internationales Josephus-Kolloquium an, das im Jahr 2004 in Dublin am Trinity College (»Josephus: Interpretation and History«) stattfand. Die Beiträge von Dublin sind in dem Tagungsband »Rodgers, Zuleika (Ed.): Making History. Josephus and Historical Method, JSJ.S 110, Leiden 2007« veröffentlicht. Das Josephus-Kolloquium in Dublin hatte noch stärker einen Schwerpunkt auf methodologischen Fragen: Wie können Josephustexte mit den Methoden kritischer Ge­schichtsforschung erschlossen werden? Welchen Strategien folgt Josephus bei der Verarbeitung seiner Quellen? Wie kann Josephus selbst verantwortlich als glaubwürdige Geschichtsquelle benutzt werden? Und welche Ergebnisse zeigen sich, wenn man seine Texte auf dem Hintergrund neuer Erkenntnisse der Archäologie liest?
Die israelischen Herausgeber um Jack Pastor haben nun in dem zweiten Band 24 Beiträge des Haifaer Kolloquiums gesammelt. Ein Beitrag ist in französischer und zwei sind in deutscher Sprache, alle übrigen auf Englisch abgefasst. Acht Autoren waren bereits an dem Tagungsband des Kolloquiums von Dublin beteiligt. Der Untertitel »Interpretation and History« lässt eine unerschöpfliche Spannweite von Themen zu, die sich nicht sinnvoll anordnen ließen. Wohl deshalb haben die Herausgeber entschieden, die Beiträge nicht thematisch oder chronologisch zu sortieren, sondern alphabetisch nach Autorennamen zu sammeln.
Die Wahl des Tagungsortes in Israel erwies sich als glücklich, weil auch archäologische Fragestellungen mit einbezogen wurden: Der Beitrag von M. Aviam kontrastiert aufgrund der archäologischen Funde in Jotapata/Yodfat und Gamla die alte sozioökonomische Einteilung von reichen Städten und armen ländlichen Gegenden mit einem differenzierteren sozialen Schichtenmodell der Bevölkerung Galiläas im 1. Jh.: Die Unterschicht bestand aus Tagelöhnern, Hirten und Bettlern sowie aus Handwerkern wie Webern und Töpfern. Über ihnen rangierten Olivenöl- und Getreidepro­duzenten, Schmiede und Tischler. Die Oberschicht bildeten Kauf­-leute, Steuereintreiber und Beamte. T. M. Jonquière widmet ihren Beitrag den literarischen Interessen des Josephus. Sie analysiert den Charakter seiner Beschreibung von der römischen Eroberung von Jotapata/Yodfat. Da seine Kritiker für religiöse Argumente empfänglich sind, präsentiert Josephus sich in seiner Verteidigungsstrategie als Prophet, Priester und Beter. Y. Shahar betont, anders als die modernen archäologischen und historischen Kritiker des josephischen Masada-Berichtes in Bellum 7, die topographische Genauigkeit seiner Beschreibung. S. Rocca rekonstruiert die nur bei Josephus erwähnte große Synagoge (proseuche) von Tiberias in ihrer Funktion als Beratungsraum, Gebetsplatz und Gerichtshof. Das archäologisch (noch) nicht nachgewiesene Gebäude soll als römische Basilika gebaut worden sein, ähnlich der königlichen Stoa im Süden des herodianischen Tempels.
Fünf Beiträge widmen sich unterschiedlichen Aspekten der Tempelthematik: C. Batsch analysiert das Opfersystem, das Flavius Josephus in Ant 3,224–236 beschreibt. M. P. Ben Zeev vergleicht die unterschiedlichen Berichte des Josephus und des Sulpicius Severus (Chron. 2,30,6–7; 5. Jh.) über die Tempelzerstörung durch die Römer und kommt zu der Auffassung, dass der Tempel nicht, wie Josephus in Bellum 6,266 vorgibt, gegen den Willen des Titus zerstört worden sei. E. Regev arbeitet die Argumente der Zeloten in Bezug auf den Tempel anhand der Gegenposition des Josephus heraus. G. Hata macht sich auf die Suche nach dem jüdischen Konkurrenztempel von Leontopolis in Ägypten und lokalisiert ihn in Bubastis/Tel Basta, wobei archäologische Grabungen dort noch vorzunehmen wären. G. Schimanowski analysiert die Naturmetaphorik des salomonischen und herodianischen Tempels bei Josephus. Die Bedeutung des Tempels versteht Josephus von seinem Priestertum her und von der Vertrautheit auch der nichtjüdischen Leser mit der auf das Universum bezogenen Tempelsymbolik.
Drei Beiträge nehmen die Rolle Roms bei der Interpretation der Josephuswerke in den Blick: J. Curran meint nicht, wie H. Cotton und W. Eck, Josephus sei ein gesellschaftlich völlig isolierter alter Mann am Hof Vespasians gewesen. Vielmehr habe Josephus ein Netzwerk vielfältiger Kontakte unterhalten und habe sich in einem lebendigen Austausch über die Zukunft des Judentums in­mitten der römischen Gesellschaft befunden. E. S. Gruen vergleicht die verblüffenden Analogien zwischen den Biographien und Schriften der beiden Historiker Polybios (200–120 v. Chr.) und Josephus und arbeitet die Technik subversiver Romkritik bei beiden heraus. M. Tuval geht der Frage nach, warum Josephus einer römischen Leserschaft gegenüber auf seinem Status und seiner Abstammung als Priester beharrt, obwohl der Tempel von Jerusalem nicht mehr existiert und obwohl sich Josephus in Rom in einer Diasporasituation befindet. Josephus benutze, so Tuval, die hohe gesellschaftliche Reputation von römischen oder orientalischen Priestern in Rom, um sein Ansehen und seinen Status zu heben. Er zeigt so seine Bereitschaft, Führungsaufgaben in der jüdischen Gemeinschaft zu übernehmen. Ergänzen könnte man noch, dass Josephus mit seiner Selbstdarstellung nicht an die vier oligarchischen Hohenpriesterfamilien anknüpft, deren Repräsentanten in Jerusalem zuletzt geherrscht haben, sondern dass er seine Person in die Nähe des früheren hasmonäischen Hohenpriestergeschlechts rückt (Vita 2; Ant 12,265). Nicht überzeugen Tuvals Belege, die beweisen sollen, Priester hätten in vorrabbinischen jüdischen Diasporasynagogen führende Positionen eingenommen. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie nach der Tempelzerstörung allgemein an Autorität verloren haben und deshalb keine führenden gesellschaftlichen Funktionen mehr ausübten. Josephus hat zwar als Historiker am Hof der Flavier eine gewisse Anerkennung gehabt, hat aber eben keine führende politische Rolle mehr als Priester in der jüdisch-römischen Diaspora gespielt.
Weitere Beiträge des Sammelbandes behandeln chronologische Themen oder die Verarbeitung von historischen Quellen bei Josephus. Das Buch erweist sich als eine Fundgrube unterschiedlichster Themen. Alle Aufsätze des Bandes entsprechen dem Forschungsstand des Jahres 2006. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen wurde keine Literatur mehr aus der Zeit nach 2006 aufgenommen. Kritisch ist deshalb nachzufragen, warum sich die Veröffentlichung des Sammelbandes nach dem Kolloquium von Haifa noch fast fünf Jahre hingezogen hat, so dass einige der Ergebnisse leider selbst schon wieder Geschichte sind.