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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

155–157

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Labahn, Antje

Titel/Untertitel:

Licht und Heil. Levitischer Herrschaftsanspruch in der frühjüdischen Literatur aus der Zeit des Zweiten Tempels.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2010. 183 S. 20,5 x 12,5 cm = Biblisch-Theologische Studien, 112. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-7887-2458-0.

Rezensent:

Claudia Losekam

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Grossman, Maxine L. [Ed.]: Rediscovering the Dead Sea Scrolls. An Assessment of Old and New Approaches and Methods. Grand Rapids/Cambridge: Eerdmans 2010. XIII, 318 S. m. Abb. gr.8°. Kart. US$ 28,00. ISBN 978-0-8028-4009-7.


Das Ziel dieses Sammelbandes besteht darin, unterschiedliche me­thodische Zugänge zur Erforschung der Textrollen vom Toten Meer zusammenzutragen. Die einzelnen Beiträge erheben dabei den Anspruch, einführenden Charakter zu haben, so dass sie auch von Nicht-Fachleuten produktiv gelesen werden können. Dabei ist es – so das Vorwort – ein erklärtes Ziel, die Qumranforschung, die auf Außenstehende oft kryptisch wirkt, für einen weiteren Kreis zu öffnen. Namhafte Qumranforscher haben zu dem Unternehmen, das im Umkreis von Gastvorträgen und Tagungen der Society of Bib­-lical Literature entstanden ist, beigetragen:
Sarianna Metso (»When the Evidence Does Not Fit: Method, Theory, and the Dead Sea Scrolls«), Eibert Tigchelaar (»Constructing, Deconstructing and Re­constructing Fragmentary Manuscripts: Illustrated by a Study of 4Q184 [4QWiles of the Wicked Woman]«), Martin G. Abegg Jr. (»The Linguistic Analysis of the Dead Sea Scrolls: More Than [Initially] Meets the Eye«), Bruce Zuckerman (»The Dynamics of Change in the Computer Imaging of the Dead Sea Scrolls and Other Ancient Inscriptions«), Jodi Magness (»Methods and Theories in the Archaeology of Qumran«), Hayim Lapin (»Dead Sea Scrolls and the Historiography of Ancient Judaism«), James R. Davila (»Counterfactual History and the Dead Sea Scrolls«), Eugene Ulrich (»Methodological Reflections on Deter­-min­ing Scriptural Status in First Century Judaism«), Charlotte Hempel (»Sources and Redaction in the Dead Sea Scrolls: The Growth of Ancient Texts«), Steve Delamarter (»Sociological Models for Understanding the Scribal Practices in the Biblical Dead Sea Scrolls«), Carol A. Newsom (»Rhetorical Criticism and the Dead Sea Scrolls«), Robert Kugler (»Of Calendars, Community Rules, and Common Knowledge: Understanding 4QSe–4QOtot, with Help from Ritual Stud­ies«), Maxine Grossman (»Women and Men in the Rule of the Congregation: A Feminist Critical Assessment«), Jutta Jokiranta (»Social-Scientific Approaches to the Dead Sea Scrolls«) und Jonathan Klawans (»The Dead Sea Scrolls, the Essenes, and the Study Of Religious Belief: Determinism and Freedom of Choice«).
Eine mehr als 20 Seiten umfassende Bibliographie wichtiger Pub­-likationen zu Qumran sowie ein Stichwort- und Quellenregister schließen den Band, der einen ausgezeichneten Überblick zur ak­tuellen Qumranforschung gibt.

B. E.




Die von Antje Labahn vorgelegte Studie geht zurück auf einen überarbeiteten Abschnitt ihrer im Wintersemester 2009/2010 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel vorgelegten Habi­-litationsschrift »Levitischer Herrschaftsanspruch zwischen Aus­-übung und Konstruktion. Studien zur Chronik und zu frühjü­dischen Schriften in der Zeit des zweiten Tempels«. Gedanklich nimmt die Arbeit ihren Ausgangspunkt bei den vielfältigen Tätigkeitsfeldern der Leviten in der Chronik. So seien einzelne Aspekte die Leviten in der frühjüdischen Literatur betreffend »auch in den alttestamentlichen Chronikbüchern erwähnt« (11). Dabei gilt das Interesse dem Aneignungsprozess des chronistischen Levitenbildes als das einer multifunktionalen Gruppierung mit Herrschaftsfunktionen.
Im Zentrum der Analyse stehen vier Schriften, in denen Leviten ein Anteil an der Sinndeutung der jeweiligen Schrift zukommt. Im Einzelnen sind dies die Tempelrolle (TR) aus Qumran, das fragmentarisch erhaltene Aramäische Testamentum Levi (ATL, so die Abkürzung der Vfn.), die Testamente der Zwölf Patriarchen (TestXII) und das Jubiläenbuch (Jub). Erklärtes Ziel der Untersuchung ist, die Leviten als eine in der frühjüdischen Literatur zumeist un­terschätzte Gruppierung hervorzuheben und die Forschungsdis­kussion zu bereichern (19). Die wenigen Bemerkungen zur Forschungsgeschichte des Levitenbildes in der frühjüdischen Literatur (12–19) offenbaren ein deutliches Forschungsdesiderat.
Der methodische Ansatz, den die Vfn. wählt, ist ein konstruktivistischer aus der Wissenssoziologie, den sie in der Einleitung (20–27) darlegt. Dabei wird die in Texten anzutreffende Wirklichkeit als deutende Wirklichkeitskonstruktion eines Subjekts verstanden. Der Vergleich von Texten ist somit ein Vergleich subjektiver Sinnkonstruktionen. Bei ähnlichen Sinnangeboten in verschiedenen Texten »spricht die Erkenntnistheorie davon, dass Sinnangebote viabel werden.« (25) Die Viabilität, d. h. die Gangbarkeit von Wirklichkeitskonstruktionen in der Sinndeutung von Leviten, ist ein Indikator für Akzeptanz oder Ablehnung einer Deutung.
Neben der Einleitung (1–27) ist die Studie in fünf weitere Kapitel gegliedert, in denen das Levitenbild der genannten Schriften (Kapitel 2–5; 28–130) erhoben wird. Das abschließende Kapitel (Ka­pitel 6; 131–159) umfasst eine Zusammenschau der verschiedenen Wirklichkeitskonstruktionen und fragt nach möglichen Wirklichkeitserfahrungen hinter den Modellen.
Den Stand der Leviten in der Tempelrolle (TR) in 11Q19/ 11Q20 (Kapitel 2; 28–50) beurteilt die Vfn. als gleichberechtigt mit dem der Priester (46). Dies folgert sie aus den Abgaben an Leviten (Opfer- und Ernteabgaben: 11Q19 22,16 f.; 11Q19 60,13–16), ihren Aufgaben und Funktionen (Richter 11Q22 61,15–16) und besonders aus der Zuteilung einzelner Abschnitte des mittleren Tempelvorhofs an Levis Söhne (11Q19 44,19–45,4). Trotz einer gewissen Ähnlichkeit mit Deutungsangeboten der Chronik enthalte die TR eher kultische Sinnpotentiale.
Die besondere Bedeutung Levis im ATL (Kapitel 3; 51–68) bestehe in seiner Nähe zu Gott, der auf Erden sein Priesterdienst wie auch der seiner Nachkommen korrespondiere (67). Mit der Bezeichnung Aramäisches Testamentum Levi (ATL) weicht die Vfn. von der im angelsächsischen Raum gängigen Bezeichnung Aramaic Levi Document (ALD) ab und betont den in der Forschung umstrittenen Testamentscharakter der Schrift. In der Übertragung von Führungspositionen (Anführer, Richter, Priester u. Könige, ATL 13,16) auf Levis Nachkommen werde ein Wirklichkeitsentwurf sichtbar, in dem sich die Gottesnähe in soziale Wirklichkeitsfelder auswirke (67).
In TestXII und besonders in TestLev (Kapitel 4; 69–99) seien be­kannte Aspekte aus dem Levitenbild des ATL erkennbar. Die Kenntnis und Weitergabe des Gesetzes durch Levis Nachkommen (85 f.) und die ihnen zugeschriebenen Herrschaftsfunktionen als Priester, Richter und Schriftgelehrte (83 f.) bildeten dagegen Schwerpunkte einer eigenen Wirklichkeitskonzeption. Dazu zähle auch Levis Stilisierung als Heilsgestalt (87–95). Die Sinnpotentiale in TestXII wiesen Kongruenzen mit der Chronik und dem ATL auf.
Die göttliche Erwählung Levis und seiner Nachkommen zum Priesterdienst in Jub 30–32 (Kapitel 5; 100–130), ihre Herrschaftsfunktionen und autoritative Schriftinterpretation beinhalteten ein alternatives Identifikationsangebot gegenüber der Besetzung des Hohepriesteramtes durch die Hasmonäer. Dabei seien die Motive zur Stellung der Leviten aus der Chronik entwickelt oder gar »aus TestXII bzw. ATL übernommen« (129). Der Wirklichkeitsentwurf des Jub interpretiere damit die Gegenwart und empfehle die Leviten als zukünftige Leitungsinstanz (129).
In der Zusammenschau (Kapitel 6) seien für ATL, TestLev und Jub Sinnpotentiale zu erkennen, die levitisches Handeln und Funktionen verstärkt im gesellschaftlichen Bereich verankerten. Von daher sei anzunehmen, »dass ein solches levitisches Engagement (mindestens partiell) in der Gesellschaft vorzufinden ist« (151). Demgegenüber offenbare das Nichtvorhandensein von Leviten nach dem Jub die »levitische Krise« (152–155). Dieses Phänomen deutet die Vfn. zum einen als Ausdruck priesterlicher Übermacht (154). Andererseits greift sie auf eine bereits von Joachim Schaper und anderen (156, Anm. 46) geäußerte These zurück, dass levitische Traditionen von Pharisäern und Rabbinen aufgenommen worden seien, und vermutet eine Integration der Leviten in die Gruppe der Pharisäer unter Preisgabe des eigenen Gruppenprofils (155–159).
Unbestreitbar handelt es sich bei der vorliegenden Studie um die Aufarbeitung eines Forschungsdesiderats mithilfe eines innovativen methodischen Ansatzes aus der Wissenssoziologie. Allerdings sind auch kritische Anfragen zu stellen. Die Reihenfolge der analysierten Schriften bildet eine Chronologie in der Rezeption levitischer Motive ab, die besonders bezüglich TestXII und Jub deutlich zu begründen ist.
Der Bezugs- und Ausgangspunkt dieser Studie bei dem Levitenbild der Chronik ist eine Stärke und zugleich eine Schwäche der Arbeit. Einerseits eröffnet die Frage nach Aneignung oder Rezeption der Vorrangstellung der Leviten in der Chronik einen neuen Blick auf die Levitenaussagen der frühjüdischen Schriften. Andererseits verengt diese Prämisse auch den Blick auf die Intention der Schriften. Die positive Rezeption levitischer Sinnpotentiale der Chronik in ATL, TestLev und Jub vermitteln das Bild eines idealen Priestertums. Levi und seine Nachkommen repräsentieren ein ideales Priestertum, ohne die Gruppe der Leviten zu ersetzen, wie die Erwählung beider Gruppierungen in Jub 30,18 zeigt. Von daher wäre eine Klärung von Bedeutung und Sprachgebrauch der »Leviten« in den analysierten Schriften sinnvoll. Die These vom Eingehen der Leviten in die Gruppierung der Pharisäer muss sich zudem mit dem kultisch konnotierten Levitenbild in Mischna und Midrasch (mPea I,6; mDem VI,3.4.5; mMSh V,6; mTaan IV,2; mGit V,8, SifBam § 116) auseinandersetzen.
Leider vermisst man in der Textanalyse die Diskussion mit der neueren englischsprachigen Forschungsliteratur (R. Kugler, From Patriarch to Priest, 1994; H. Drawnel, An Aramaic Wisdom Text from Qumran, 2004; M. Himmelfarb, Kingdom of Priests, 2006). Neben einigen formalen Mängeln ist es unglücklich, dass die Habilitationsschrift der Vfn. zum Herrschaftsanspruch der Leviten in der Chronik, auf die mehrfach verwiesen wird (12, Anm. 1; 62, Anm. 50; 66, Anm. 63; 133, Anm. 3; 147, Anm. 29; 158, Anm. 33), noch nicht publiziert vorliegt.
Trotz der kritischen Anmerkungen setzt die Vfn. in der Fokussierung auf die Leviten in der frühjüdischen Literatur einen neuen Impuls zur Analyse identitätsstiftender Konzepte. Man darf gespannt sein auf die Veröffentlichung zum Herrschaftsanspruch der Leviten in der Chronik, die das Fundament der vorliegenden Studie bildet.