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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

153–154

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Boustan, Ra’anan S., Kosansky, Oren, and Marina Rustow[Eds.]

Titel/Untertitel:

Jewish Studies at the Crossroads of Anthropology and History. Authority, Diaspora, Tradition.

Verlag:

Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2011. X, 433 S. m. Abb. 22,8 x 15,0 cm = Jewish Culture and Contexts. Lw. US$ 69,95. ISBN 978-0-8122-4303-1.

Rezensent:

Catherine Hezser

Der Sammelband basiert auf einem am Herbert D. Katz Center for Advanced Jewish Studies der Universität von Pennsylvania im Jahre 2003/4 durchgeführten Forschungsprojekt zum Thema »Pre­-scriptive Traditions and Lived Experience in the Jewish Religion: Historical and Anthropological Perspectives«. An dem Projekt waren Wissenschaftler verschiedener Fachbereiche und Epochen beteiligt. Die hier veröffentlichten Aufsätze sind entsprechend vielfältig. Die drei Begriffe »Authority«, »Diaspora«, und »Tradition« dienen als allgemeine Überschriften für die drei Kapitel, unter denen die Beiträge angeordnet sind.
Die von den Herausgebern verfasste Einleitung zum Band ist eine gute Zusammenfassung der methodischen Neuerungen in der Judaistik bzw. den Jüdischen Studien der letzten Jahre. Hier wird der multikulturelle, pluralistische und inklusive Ansatz dem traditionellen ethnozentrischen Ansatz, der bestimmten, als »normativ« angesehenen Traditionen den Vorrang gab, gegenübergestellt. Die Betonung liegt heutzutage auf der Heterogenität des Judentums, welche bereits in der Antike in den verschiedenen Medien (Texte, Kunst, Ritual etc.) zum Ausdruck gebracht wurde. In der Vergangenheit oft übergangenen Gruppen wie Frauen und Kindern, Arbeitern und Bauern gilt das besondere Augenmerk. Das, was als jüdisch bezeichnet wird, ist oft kontrovers und von der jeweiligen Perspektive der Person oder der Institution abhängig, die die Unterscheidung zwischen jüdisch und nichtjüdisch vornimmt. Die Autoren plädieren für einen Arbeitsansatz, der einerseits die verschiedenen Perspektiven berücksichtigt und andererseits die hinter den jeweiligen Abgrenzungen stehenden Machtverhältnisse untersucht.
Es ist wichtig, sich der Implikationen allgemein verwendeter Begriffe wie »Diaspora«, »Assimilation« und »Gastgeberland« be­wusst zu sein. Die oft zionistisch motivierte Verwendung des Be­griffs der Diaspora setzt voraus, dass die eigentliche Heimat der Juden immer Israel war, ist und sein wird. Wenn man von der Assimilation oder Ak­kulturation der Juden spricht, wird angenommen, dass sich jüdische kulturelle Praktiken radikal von denen der sie umgebenden Bevölkerung unterscheiden. Die Rede vom Gastgeberland ( host society) degradiert Juden zu Gästen in Gesellschaften, in denen sie seit Generationen ansässig sind. Statt derartige dualistische Konzepte fortzusetzen, sollte Judentum als integraler Bestandteil der jeweiligen Gesellschaften verstanden und in den jeweiligen Wechselwirkungen mit seiner Umwelt untersucht werden.
Der Ansatz, das Judentum als sich stetig erneuernde und dynamische discursive tradition (14) zu sehen, welche sich dialogisch in der Auseinandersetzung zwischen Juden und Anhängern anderer Religionen und Weltanschauungen entwickelt(e), wird in den einzelnen Beiträgen des Bandes exemplarisch dargestellt. Bereits die Themen der Beiträge des ersten Teils zum Thema authority sind äußerst vielfältig und reichen von Auseinandersetzungen um die halachische Legitimität schwarzer Juden auf dem amerikanischen Camp Ramah (Riv-Ellen Prell) über rabbinische Einstellungen zur Magie (J. H. Chajes), einen heiligen Ort marokkanischer Juden in Beth Shean (Yoram Bilu) bis hin zu Eheverträgen als Quelle zur Erforschung des Alltagslebens in jüdischen Gemeinden (Shalom Sabar). Dabei wird Autorität nur im ersten dieser Beiträge ausdrücklich thematisiert: Die Frage, ob die schwarzen Juden aufgrund des jüdischen Rechts wirklich als jüdisch angesehen werden könnten, führte zu einem Konflikt hinsichtlich der Autoritätsbasis des konservativen Judentums. Wenn Halacha nicht als eindeutig fixiertes Gesetz angesehen wird, konkurrieren notwendigerweise unterschiedliche Interpretationen miteinander. So zeigt Chajes’ Beitrag, dass unter den Rabbinern des Mittelalters völlig verschiedene Vorstellungen dessen, was als Magie anzusehen ist, vorhanden waren. Im heutigen Israel spielen auch ethnische Unterschiede eine große Rolle bei der Entstehung lokaler Traditionen. Bilu untersucht Quellen, die dazu dienten, einem Heiligtum marokkanischer Ju­den Legitimität zu verleihen. Lokale Bräuche, künstle­rische Traditionen und ästhetische Konzepte spielten auch eine Rolle bei der Gestaltung der jüdischen Eheverträge (ketubbot). Sa­bar geht den durch die verschiedenen kulturellen und historischen Kontexte bedingten Unterschieden in Text und Gestaltung dieser Verträge nach.
Der zweite, mit Diaspora überschriebene Teil ist der kürzeste des Bandes. Das Gemeinsame der hier vereinigten Beiträge ist die Bedeutung von Räumlichkeit und Dislokation, wobei das dualistische Konzept von Heimat und Diaspora infrage gestellt wird. Boustan beschäftigt sich mit Texten zum mobilen Inventar des Tempels, welches nach 70 in Rom zur Schau gestellt wurde. Angeblich schufen diese Texte eine Brücke, welche Materialität und Textualität, Israel und Diaspora verband. Wallfahrten zu den Grabstätten der Gerechten im mittelalterlichen und modernen Aschkenaz verbanden, Raspe zufolge, lokale Traditionen mit Erinnerungen an das »Heilige« Land. Schatz zeigt anhand von Samuel Romanellis Reisebericht aus dem 18. Jh., dass die Diaspora-Existenz asch­-kenasischer Juden der Aufklärungszeit den traditionellen Gegensatz zwischen europäischem Westen und orientalischem Osten transzendierte. Katriel geht dem rhetorischen Topos der Immigration als Heimkehr, Rettung oder gar Erlösung nach, der nach wie vor für die israelische nationale Identität von zentraler Bedeutung ist.
Die fünf Beiträge des dritten Teils versuchen, jüdische Tradition– als Text oder Ritual – neu zu verstehen. Baumgarten und Rustow bieten eine kritische Stellungnahme zu Hobsbawms Unterscheidung zwischen »echten« und »erfundenen« Traditionen im Hinblick auf das antike Judentum. Goldberg untersucht eine kalendarische Kontroverse des 10. Jh.s, die die Fragwürdigkeit dessen, was als »authentische« Tradition anzusehen ist, aufzeigt. Ka­narfogel analysiert Gebetstexte des 12. bis 14. Jh.s, um die angeblich weit verbreitete literacy (hier: Lesefähigkeit) europäisch-jüdischer Gemeinden des Mittelalters zu hinterfragen. Die beiden letzten Beiträge (El-Or und Schwartz) gehen der Bedeutung des Rituals im Judentum aus ganz unterschiedlichen Perspektiven nach. Goldbergs Überlegungen zu einem neuen integrativen Ansatz und einer stärkeren Einbeziehung anthropologischer Methoden und Modelle schließen den Band ab.
Wer aufgrund des Titels eine systematische Auseinandersetzung mit neueren historischen und anthropologischen Ansätzen erwartet, wird sicher enttäuscht. Die in diesem Sammelband vereinigten Beiträge zeigen aber exemplarisch, wie sich Judaistik bzw. Jüdische Studien in den letzten Jahren entwickelt haben. Während der Band Studienanfänger und Laien überfordert, bietet er höheren Semestern und Fachgelehrten viele Anregungen zur eigenen Forschungsarbeit.