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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

108–110

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Merzyn, Konrad

Titel/Untertitel:

Die Rezeption der kirchlichen Trauung. Eine empirisch-theologische Untersuchung.

Verlag:

Leipzig: Evange­lische Verlagsanstalt 2010. 422 S. 23,0 x 15,5 cm = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 46. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-02745-3.

Rezensent:

Ulrike Wagner-Rau

Keine Kasualie hat in den letzten Jahrzehnten so stark an Akzeptanz verloren wie die Trauung, keine ist theologisch so unterbestimmt, keine wird durch Pfarrerinnen und Pfarrer gleichermaßen als konfliktreich beschrieben wie diese, die begleitet ist von teils absurden Inszenierungswünschen der Paare. Umso verdienst­reicher ist es, wenn solche – nicht zuletzt aus subjektiven Mutmaßungen gespeisten – Befunde mit solider empirischer Forschung unterfüttert und auch teilweise korrigiert werden.
Die Göttinger Dissertation von Konrad Merzyn wertet qualitative Leitfadeninterviews aus, die M. mit acht Paaren unterschiedlichen Alters und in unterschiedlichen familiären Konstellationen geführt hat, um aus dem Gesprächsmaterial die Eigentheorien dieser Paare im Blick auf ihre kirchliche Trauung zu rekonstruieren. Zwölf bis 24 Monate nach der kirchlichen Trauung hat er sich von den Paaren – jeweils von Frau und Mann gemeinsam – erzählen lassen, wie es zur Hochzeit kam, wie der Traugottesdienst erlebt wurde und was an der Predigt beeindruckt hat, welche religiösen Deutungen des Geschehens das Paar formuliert, wie der Kontakt zum Pfarrer oder zur Pfarrerin empfunden wurde, was die mediale Dokumentation des Ereignisses bedeutet und ob die Hochzeit am gemeinsamen Leben etwas verändert hat. Ein beson deres Augenmerk richtet er auf den jeweiligen Lebensstil und seine Implikationen für die Trauung des Paares. Am Ende der Untersuchung plädiert M. für ein pastorales Nachgespräch einige Monate nach der Trauung, weil deutlich geworden ist, wie ertragreich die Rekonstruktion anhand der Interviewfragen für die Paare selbst gewesen ist: Sie haben sich vieles bewusst gemacht über ihr Erleben, über ihre religiösen Überzeugungen, aber auch über wichtige Aspekte ihrer Beziehung. Dass dies so deutlich wird, ist nicht zuletzt ein Verdienst der sensiblen Gesprächsführung und der differenzierten Auswertung des Materials durch M.
Nach einem knappen Einstieg in die praktisch-theologische Forschung zur Trauung, die zur Fokussierung der eigenen Fragestellungen dient, und einer methodischen Grundlegung folgt der große Teil der Gesprächsanalysen – drei ausführliche Einzelfälle und sechs thematisch fokussierte fallübergreifende Analysen. Sie machen den Hauptteil des Buches aus. Abschließend werden aus den Ergebnissen der empirischen Untersuchung Perspektiven für Theorie und Praxis herausgearbeitet. Eine CD dokumentiert die Interviews im vollen Transkript und stellt das Material damit auch problemlos für weitere Auswertung zur Verfügung.
Insgesamt liegt eine methodisch und inhaltlich sorgfältig gearbeitete Studie vor, die einen interessanten Einblick gewährt in die Selbstdeutung der Traupaare und diese im sachkundigen Dialog mit der einschlägigen praktisch-theologischen Literatur interpretiert. Wie auch andere qualitativ-empirische Studien zur Kasualtheorie zeigt das Buch, dass die religiöse Motivation für den Traugottesdienst in der Kirche eine bedeutende Rolle spielt und sehr differenziert über den Transzendenzbezug der Trauhandlung nachgedacht wird, selbst wenn der Bezug zu Kirche und Christentum eher schwach ist. Es wird »lebensgeschichtliche Sinnarbeit« (Gräb) geleistet, indem die Paare von ihrer Hochzeit erzählen. Zentraler Haftpunkt theologischer Überlegungen in den Rekonstruktionen, so M., sei der Zusammenhang zwischen dem Trauversprechen, in dem das Paar sich in der Öffentlichkeit wechselseitig Verbindlichkeit der Beziehung und Treue zusagt, und dem Segen, der dieses Versprechen durch die Zusage göttlichen Schutzes gegen­- über der standesamtlichen Trauung besonders qualifiziere (vgl. 309). Angesichts dieses Befundes leuchtet es nicht wirklich ein, dass an anderer Stelle (vgl. 289 u. ö.) die gängige theologische Einordnung der Trauung als Segensgottesdienst problematisiert wird.
Überzeugend wird herausgearbeitet, dass die Trauung im Erleben der Paare zu Veränderungen in der Beziehung in Verbindung gebracht wird, die im Kontext und in der Folge der Hochzeit be­-obachtet werden. Eigentlich hat sich nichts geändert, aber trotzdem stellt sich doch manches anders dar als zuvor. Markante Entscheidungen, so wird in der Rückschau deutlich, stehen in einem Zu­sam­menhang mit dem Schritt in die Ehe. Dieser Untersuchungsbefund widerspricht der im Anschluss an Rosemarie Navé-Herz behaupteten Aussage, dass die Trauung ihren Charakter als Übergangsritual verloren und stattdessen zu einem Konfirmationsritual geworden sei. In den Rekonstruktionen der befragten Paare sind demgegenüber Aspekte des Übergangs ebenso zu finden wie solche der Bestätigung einer Beziehung, die bereits seit längerer Zeit besteht.
Jedenfalls im begrenzten Kreis der Befragten lassen sich die oft behaupteten Konflikte um die musikalische Gestaltung des Traugottesdienstes nicht beobachten. Allerdings kann die qualitative Arbeitsweise keine repräsentativen Aussagen machen. Die – gleichfalls begrenzten – quantitativen Untersuchungen von Stefan A. Reinke (Musik im Kasualgottesdienst, Göttingen 2010), die etwa zeitgleich erschienen sind, kommen zu anderen Ergebnissen in dieser Frage. Wichtig ist jedenfalls der Hinweis von M., dass die Paare in seinem Sample sich generell als durchaus kompetent erweisen, die Inszenierung ihres Traugottesdienstes in Ko­operation mit dem Pfarrer und der Pfarrerin zu gestalten. Sie sind liturgisch keinesfalls so hilflos, wie ihnen zuweilen unterstellt wird.
Die mediale Dokumentation des Geschehens, so wird aus dem Material bestätigt, gehört für die Paare zum rituellen Vollzug der Trauung hinzu. Ein Anstoß für mögliche weitere Forschungsprojekte in der Kasualtheorie ist die Beobachtung, dass sich um die medialen Dokumente herum Erzähl- und Interpretationsgemeinschaften bilden, die die Rezeption und Verarbeitung des Erlebten vermutlich lebenslang lebendig halten und inhaltlich immer wieder neu akzentuieren. Auch die Predigten werden beim Anschauen des Films über die Trauung offenkundig wesentlich genauer gehört als bei der Trauung selbst.
Interessant ist die im Gespräch mit Sandra und Markus rekonstruierte Situation des Zusammentreffens von Trauung und Taufe eines gemeinsamen Kindes im Gottesdienst: Hier wird deutlich, wie das Paar selbst die Dynamik von paarbezogenen und familienbezogenen Aspekten der Handlung inszeniert und interpretiert. Aus diesem Fall ließen sich weitergehende liturgische Schlussfolgerungen für diese komplexe, praktisch-theologisch noch wenig bedachte Gottesdienstform ableiten.
Insgesamt sind die Analysen M.s eine bereichernde Lektüre. Manches hätte allerdings kompakter formuliert werden können, um den Umfang des Buches zu begrenzen und dadurch leichter rezipierbar zu machen. Denn man wünschte dem Buch Leser und Leserinnen nicht nur aus der Wissenschaft, sondern auch aus dem Pfarrberuf. Die Analyse qualitativ-empirischer Untersuchungen nämlich – auch wenn sie nicht immer sensationell neue Einsichten erbringen – schärft die Wahrnehmungsfähigkeit für religiöse Selbstdeutungen, fördert die kommunikative Kompetenz im Ka­sualgespräch und fordert die theologische Kompetenz im Dialog mit den Betroffenen produktiv heraus.