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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

106–108

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Clausen, Matthias

Titel/Untertitel:

Evangelisation, Erkenntnis und Sprache. Über-zeugend predigen unter nachmodernen Bedingungen.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2010. XI, 261 S. 22,0 x 14,5 cm = Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwick­lung, 13. Kart. EUR 26,90. ISBN 978-3-7887-2445-0.

Rezensent:

Alexander Deeg

Seit gut zehn Jahren wird sowohl in den Kirchen als auch in der Theologie wieder engagiert und positiv von Mission gesprochen, weit weniger aber von Evangelisation. In diese Lücke stößt die Arbeit von Matthias Clausen vor. Er sucht nach einer Begründung und nach Wegen evangelistischer Verkündigung in der Gegenwart– angesichts der großen Anzahl von Menschen (gerade in den neuen Bundesländern), die bereits in zweiter oder dritter Generation ohne Kirchenbindung und beinahe ohne Kenntnisse über das Christentum leben, ein wichtiges Projekt.
C. gibt als Ziel seiner Arbeit an, »im Gespräch mit Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie die kognitive Seite von Bekehrung zu beschreiben« (195) und evangelistische Verkündigung auf diesem Hintergrund zu durchdenken. Dieser Dialog von Evangelisations- und Erkenntnistheorie markiert den originellen Ansatz dieser Greifswalder Dissertation.
Nach einer knappen Einleitung (1–5) wird der theologische Ausgangspunkt erarbeitet (6–55), indem die Begriffe »Evangelisation« und »Bekehrung« definiert werden. Im (teilweise eklektischen, hermeneutisch wenig reflektierten) Rückgang auf biblische Aussagen wird Evangelisation als die »Verkündigung eines konkreten Inhalts (des Evangeliums von Jesus Christus), mit konkreten Adressaten (Nicht-Glaubenden), einem konkreten Ziel (Adressaten kommen zum Glauben) vor dem Hintergrund einer konkreten Gemeinschaft (der Gemeinschaft der Christen)« (14) bestimmt. Bei dem Verständnis von Bekehrung konzentriert sich C. auf den »Wandel kognitiver Überzeugungen« (50) als Resonanz der Evangelisation und weiß um den Prozesscharakter, den dieser Wandel haben kann.
In einem zweiten Schritt bereitet C. den Dialog mit Positionen der Erkenntnistheorie vor (56–86) und nimmt dazu die vielfach verwendete Unterscheidung zwischen »foundationalism« und »post-foundationalism« auf. Mit dem US-amerikanischen Religionsphilosophen Alvin Plantinga (geb. 1932) wählt C. einen Vertreter der letztgenannten Richtung als Gesprächspartner. Diese erkenntnistheoretische Basis verbindet C. mit einer Reflexion auf die Sprache nach dem »linguistic turn« – und holt dazu Wittgenstein als weiteren Dialogpartner in seinen Diskurs.
Ein drittes Kapitel stellt Plantingas »reformierte Erkenntnistheorie« (87–147) gut lesbar dar. Für Plantinga (und C.) geht es darum, die Rationalität des Glaubens zu begründen, auch wenn sich dieser nicht auf allgemein als evident anerkannte Überzeugungen bezieht und extern gestiftet wird. Entscheidend für C. ist Plantingas Modell der »Gewährleistung« (»warrant«), das es ermöglicht, »Wis­sen« von bloßen Überzeugungen zu unterscheiden (vgl. 105–123). Insgesamt zeigt sich Bekehrung in diesem Kontext als Verschiebung der »Grundlage« der »noetischen Struktur« (123), nicht nur als Umorganisation von Teilbereichen menschlicher Erkenntnis.
Ein viertes Kapitel (148–209) verfährt methodisch ähnlich. Nun ist der späte Wittgenstein der Gesprächspartner, insbesondere seine Begriffe »Sprachspiel«, »Lebensform« und »Weltbild«. Das Chris­tentum erscheint als eine Sozialform mit eigenen Sprachspielen, die neu erlernt werden können, wodurch es zur Verschiebung von Gewissheiten komme (vgl. 197–201).
Ein knappes fünftes Kapitel zieht »Konsequenzen für die evangelistische Praxis« (210–239) und beschreibt evangelistische Predigt als »flexibel«, »plausibel«, »praktisch« und »erzählend«, was jeweils durch knapp reflektierte Predigtbeispiele demonstriert werden soll.
Die Arbeit wird – wie dieser Durchgang durch die Struktur zeigt– von einer interessanten Ausgangsfrage und einer originellen Idee zu deren Bearbeitung getragen. Die Verbindung von Evangelisation und erkenntnistheoretischer Reflexion ist neu und er­scheint weiterer Bearbeitung wert. Diese allerdings bleibt auch nach der Lektüre von C.s Dissertation zu leisten, da die vorliegende Erarbeitung den gestellten Ansprüchen weder methodisch noch inhaltlich genügen kann. Dass die Arbeit typographisch und orthographisch allzu viele Fehler aufweist, ist ein marginales Problem. Ich benenne darüber hinaus fünf grundlegende Anfragen:
1. Der Arbeit fehlt eine klarere Eingrenzung der leitenden Fragestellung. Teilweise erscheint sie als eine allgemeine Apologie des Glaubens unter nachmodernen Bedingungen, teilweise als eine ebenso allgemeine Evangelisationstheorie, teilweise als Auseinandersetzung mit evangelistischer Verkündigung im engeren Sinn, teilweise als konkrete Praxishilfe für evangelistische Predigt. Besonders bedauerlich ist aus praktisch-theologischer Perspektive, dass die ins Gespräch gebrachten Phänomene evangelistischer Verkündigung an keiner Stelle methodisch gesichert eingeholt werden. Die zitierten Beispiele erscheinen beliebig und ihre Auswahl unkritisch.
2. Die Arbeit verzichtet vielfach auf eine Auseinandersetzung mit relevanter Literatur – sowohl zur erkenntnistheoretischen als auch zur homiletischen Diskussion. So wäre eine vertiefte Wahrnehmung von (rezeptions-)ästhetischen Homiletiken (samt einer kritischen Auseinandersetzung mit ihnen) sicherlich hilfreich gewesen. C. behauptet, dass es eine »Eindeutigkeit im Inhalt« bei gleichzeitiger »Flexibilität der Form« (30) gebe, weiß aber andererseits, dass Sprache kein Behälter für die Übermittlung von Gedanken ist, sondern selbst Wirklichkeit vermittelt (192). Eine weitergehende Diskussion dieses fundamentalen Problems erscheint notwendig – nicht zuletzt, um damit die Frage nach Intention und Wirkung der Predigt gründlicher zu bearbeiten (vgl. 27).
3. In der Arbeit fehlt eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem, was (vermeintlich trennscharf) als »Glaube« bzw. »Unglaube« (vgl. 46 u. ö.) bezeichnet wird. Luthers soteriologisch begründete erkenntnistheoretische Pointe zur radikalen Externität der Glaubenskonstitution und zum unfreien menschlichen Willen wird nur kurz gestreift (33); auch die Unterscheidung von fides qua und fides quae bzw. von faith und belief (vgl. 114) kommt nur knapp vor. Ebenso wird die Frage nach der »Rationalität« des Glaubens angesichts einer langen Geschichte der Vernunftskepsis von Paulus (vgl. 1Kor 1,18–31) über Luther bis in die Gegenwart nur oberflächlich behandelt. Da genau an diesen Stellen die Diskussion über Möglichkeit und Grenze evangelistischer Predigt als einer »Einladung« (passim) zum Glauben, die auf »Antwort« ausgerichtet sei, theologisch geführt werden müsste, erweist sich der Ausfall an diesen Stellen als besonderes bedauerlich.
4. Teilweise werden unbegründete Unterscheidungen eingeführt, die für die Arbeit erhebliche Bedeutung haben. So werden im ersten Kapitel unvermittelt sechs »Merkmale evangelistischer Predigt« (29–34) genannt, und auch die vier Folgerungen für die evangelistische Praxis aus dem fünften Kapitel werden eher gesetzt als im Kontext der Arbeit ermittelt (vgl. 210–237).
5. Schließlich unterschreitet die Art und Weise, wie im letzten Kapitel Predigtbeispiele aufgeführt werden, die Standards, die an eine Predigtanalyse in praktisch-theologischer Perspektive zu stellen wären. Es werden eher Belegstellen für eine deduktiv bestimmte Theorie vorgelegt, anstatt Predigten kritisch zu analysieren.
Zusammenfassend: C.s Buch stellt eine wichtige Frage zur rechten Zeit, findet interessante Gesprächspartner zu einer möglichen Be­antwortung, kann insgesamt aber weder praktisch- noch systematisch-theologisch überzeugen.