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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

102–104

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bayreuther, Sabine

Titel/Untertitel:

Meditation. Konturen einer spirituellen Praxis in semiotischer Perspektive.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 339 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 43. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02768-2.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

»Meditation« und »Spiritualität« sind zwei Schlüsselkategorien, um die Entwicklung evangelisch-christlicher Religion in den letzten Jahrzehnten zu verstehen. Die Individualisierung und Globalisierung religiöser Selbstvergewisserung haben dazu geführt, dass auch die evangelische Glaubenspraxis nicht an konfessionellen und kulturellen Grenzen Halt macht. Sabine Bayreuther unternimmt es darum in ihrer Heidelberger Dissertation (begleitet von Helmut Schwier), den Bedeutungsspielraum des schwer fassbaren Begriffes »Meditation« methodisch kontrolliert zu umschreiben. Sie wählt dazu die drei einflussreichsten Meditationsarten aus, 1. die Schriftmeditation in der Tradition u. a. der Berneuchener, 2. das Herzensgebet der Orthodoxie (Athos und russisch-orthodoxe Kirche) sowie 3. die buddhistische Zen-Meditation, die in der evangelischen wie in der katholischen Kirche in tiefenpsychologischer Umformung breit rezipiert wird.
Die Einheit des Dargestellten ergibt sich zunächst nur aus der semantischen Bezugnahme auf den Begriff »Meditation« in allen drei Spiritualitätsformen und durch die jeweils spezifische, historisch und kulturell bedingte Enkulturation in die kirchliche Ar­beit. Um die damit gegebene Gemengelage von »Meditation« in der evangelischen Kirche methodisch in den Griff zu bekommen, wählt B. die kulturtheoretisch-semiotische Methodik im An­schluss an Umberto Eco, wie sie in der Praktischen Theologie bisher vor allem in Liturgik, Homiletik und Religionspädagogik rezipiert, aber noch wenig de­-tailanalytisch angewendet wurde. Auf diese Weise gelingt es B., die eher diffusen Umrisse dessen, was »Meditation« genannt und dieser als Sinn zugeschrieben wird, deskriptiv zu erfassen. Deutlich werden dabei die kulturellen »Amalgamierungen« der Meditation (so die von B. bevorzugte Ausdrucks­weise). Dabei zeigt sich, dass es über die kulturellen Umstände hinaus auch phänomenologisch mehrere ge­meinsame Merkmale von gegenwärtig praktizierten Meditationsformen gibt. Neben dem Sitzen, der Stille und der Konzentration könnte man von einer Transrationalität, Transkonfessionalität und Transreligiosität spre­chen.
Es macht offensichtlich den Reiz und das Pathos von Meditation aus, dass dabei die Grenzen verfasster und gelehrter Religion zugunsten individueller Erfahrungen gesprengt werden.
Die Analyse der drei Meditationsformen umfasst den Hauptteil des Buches (43–302). Vorangestellt ist eine gut lesbare und differenziert argumentierende semiotische Standortbestimmung (19–42), die sich aufgrund des eigenen Interesses schließlich ganz auf die Ecosche Semiotik konzentriert, ohne die in der Diskussion um die Semiotik von Peirce entstandenen fundamentaltheologischen Fragen zu verfolgen. Dies wäre insofern durchaus interessant gewesen, als die von Peirce beschriebene »Erstheit« bzw. sein Begriff des »mu­sement« durchaus Möglichkeiten geboten hätten, die erlebnisorientierte Theologie der Meditation in den Blick zu nehmen. Aber diese Fragen liegen außerhalb des Forschungsinteresses dieser Ar­beit, die keine religionshermeneutische, sondern eher eine kultursemiotisch bestimmte semantische Fragestellung verfolgt.
Dabei geht B. bewusst nicht auf dem Wege von empirisch-qualitativen Befragungen vor, wie diese in der Praktischen Theologie der letzten Jahre weithin üblich geworden sind. Nicht zuletzt aufgrund der eigenen Vertrautheit mit der Sache geht B. vielmehr von folgendem Axiom aus: »Es ist ein epistemologischer Kurzschluss zu meinen, die eigene Erfahrung gebe objektiv Aufschluss über den Gegenstand Meditation. Stattdessen trägt gerade die auf Erfahrung basierende Rede über Meditation dazu bei, den Gegenstand und den Begriff zu vernebeln, da jede geäußerte Meditationserfahrung eine Anlagerung semantischer Sedimente an den Kern der kulturellen Einheit bewirkt.« (302)
Man wird B. zustimmen und noch etwas zugespitzter formulieren können: Die distanzierte deskriptive Zugangsweise führt in dieser Arbeit zu einer wohltuenden Unaufgeregtheit gegenüber dem vielfach emphatisch beschriebenen Gegenstand; aber sie verdeckt bisweilen auch die dabei gegebene Banalität des theolo­gischen Redens. Dass B. selbst davon weiß, zeigen die hier und da eingestreuten Bemerkungen über Aussagen in der Meditationsszene (vgl. 250, Anm. 195).
Weil es wegen »der Unschärfe des Begriffs« nicht möglich sei, »Meditation« im Sinne eines Wörterbucheintrags zu definieren (285), analysiert B. nach der historischen Darstellung jeweils die semantischen Komponenten in einer Anleitungsschrift zur Me­-ditation. Ausführlich beschrieben werden 1. Reinhard Deichgräbers Anleitung zur Meditation biblischer Texte von 1999 (85–115), 2. Rüdiger Maschwitzs Anleitung zum Herzensgebet von 1999 (159–194) und 3. Silvia Ostertags Anleitung zum Einswerden mit sich selbst im christlichen Zen von 1986 (259–275). Den detaillierten Analysen der Anleitungsschriften ist jeweils eine informativ darstellende und behutsam urteilende historische Einführung zu der jeweiligen Meditationsart vorangestellt. Auf diese wird man in der künftigen Diskussion um den Stellenwert der Meditation gern zu­rückgreifen. So überzeugt etwa das Kapitel zur Schriftmeditation mit genauen Kenntnissen zu Dietrich Bonhoeffer und den Berneuchenern (Carl Happich und Wilhelm Stählin; allenfalls auf Otto Haendler und vor allem auf Karl Bernhard Ritter hätte hier etwas ausführlicher eingegangen werden können).
B. hat ein praktisch-theologisches Standardwerk geschrieben, das für die Urteilsbildung über die Meditation in der evangelischen Kirche und für die Weiterentwicklung semiotischer Arbeitsweisen in der Praktischen Theologie lange maßgeblich sein wird.