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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

100–102

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Thorsteinsson, Runar M.

Titel/Untertitel:

Roman Christianity and Roman Stoicism. A Comparative Study of Ancient Morality.

Verlag:

Oxford: Oxford University Press 2010. XIII, 248 S. 23,4 x 15,6 cm. Geb. £ 68,00. ISBN 978-0-19-957864-1.

Rezensent:

Tobias Georges

Die Bezüge zwischen frühchristlicher und stoischer Ethik sind ein vieldiskutiertes Thema. Dabei sind wiederholt besonders die Kontraste zwischen beiden betont worden, häufig zulasten des stoischen Denkens, das als unterlegen gezeichnet wurde gegenüber der angeblich völlig neuen Moral der Christen. Dieser Auslegungstradition entgegenzutreten und das Verhältnis zwischen christlichen und stoischen Morallehren in ausgewogenerer Weise darzustellen, ist das erklärte Ziel von Runar M. Thornsteinsson. Im Fokus seiner Studie steht Rom im 1. und frühen 2. Jh. nach Christus. Für diese Zeit analysiert er einerseits hinsichtlich der Stoa in Rom die Lehren des Lucius Annaeus Seneca, des Gaius Musonius Rufus so­wie des Epictetus, andererseits im Blick auf die römischen Christen die Aussagen des von Paulus verfassten Römerbriefes (Röm), des ersten Petrusbriefes (1Petr) sowie des ersten Klemensbriefes (1Clem).
T. geht in klar strukturierter Weise vor: Nach einer Einleitung, die in überzeugender Weise den Forschungsstand präsentiert und methodologische Fragen klärt, untersucht er in Teil 1 der Arbeit »Moral teaching in Roman Stoicism«, in Teil 2 dann »Moral teaching in Roman Christianity«, um in Teil 3 beide Lehren zu vergleichen.
Teil 1 beginnt mit einer souveränen Überblicksdarstellung zum »Roman Stoicism« im Untersuchungszeitraum. Daraufhin werden die genannten Stoiker je für sich untersucht, wobei die Bezüge und Entwicklungen zwischen ihren Gedanken nicht außer Acht bleiben. T. bietet jeweils zuerst grundlegende Informationen zu den einzelnen Philosophen, um dann ihre ethischen Gedanken zu präsentieren und zu analysieren – die zahlreichen Zitate geben einen sehr schönen Einblick in die Quellen. Im Falle Senecas hebt T. dessen grundlegende Ansicht hervor, die Menschen seien von Natur aus zur Liebe gegenüber ihren Mitmenschen disponiert. Bei Musonius Rufus unterstreicht T. die Fürsorge für die Mitmenschen und die Konzentration auf die Kardinaltugenden sowie auf konkrete soziale Fragen, so zur Bedeutung der Familie und zur Stellung der Frau in der Gesellschaft. Hinsichtlich Epiktet zeigt T.: Wie schon bei den beiden anderen Denkern bildet bei ihm der göttliche Ursprung des Menschen die Basis dafür, moralisches Handeln am menschlichen Gegenüber auszurichten; Epiktet hebt diese theologische Grundlegung der Ethik aber noch wesentlich klarer hervor. Er geht über Seneca und Musonius Rufus auch darin hinaus, dass er sich nicht nur wie diese dagegen ausspricht, erlittenes Unrecht zu vergelten, sondern sogar dazu auffordert, die Verursacher des Unrechts zu lieben.
In Teil 2 gibt T. zunächst wiederum eine gelungene Einführung zur »Roman Christianity« im 1. Jh. und betont, wie naheliegend es gerade aus sozialgeschichtlicher Perspektive ist, dass viele Christen nicht unberührt blieben von den stoischen Lehren. Wie schon in Teil 1 werden sodann die ausgewählten christlichen Quellen je gesondert untersucht, auf einleitende Informationen zu den Schriften folgt die Darbietung und Reflexion ihrer ethischen Schwerpunkte. Die Analyse des Röm, speziell der Kapitel 12–15, führt T. zu dem Schluss, dass die Liebe in Röm die Grundtugend darstellt, zu der Paulus die römischen Christen aufruft. In T.s Augen spielt Röm für die Herausbildung einer christlichen Identität in Rom eine wesentliche Rolle, wie er gerade am Einfluss der Morallehren des Röm auf 1Petr und 1Clem zu zeigen sucht. Diesen Einfluss sieht er in 1Petr insofern belegt, als auch dieses Schreiben die Liebe als primäre Tugend darstellt und, wie Röm, die Christen dazu auffordert, sich ehrenhaft gegenüber jedermann zu verhalten und den weltlichen Autoritäten gegenüber gehorsam zu sein – die in der Forschung kontrovers diskutierte Alternative, dass 1Petr gar nicht in Rom entstanden sei, wird von T. zwar angeschnitten, aber nicht wirklich in Erwägung gezogen. In 1Clem ist gemäß der Analyse T.s der Ruf zur Unterordnung unter die römische Obrigkeit noch ausgeprägter als in Röm und 1Petr, das Liebesgebot findet seinen konkreten Ausdruck im Appell zur Einheit, der sich an die Gemeinde in Korinth angesichts ihrer Konfliktsituation richtet.
Nach der Darstellung der stoischen und christlichen Zugänge zur Ethik setzt T. in Teil 3 diese Lehren in Bezug zueinander. Für den Vergleich wählt er fünf Themen, die für die Stoiker wie für die Christen von Bedeutung sind: a) die Auffassung, die Gottesverehrung begründe eine spezifische Lebenspraxis, b) die Ausrichtung an einer paradigmatischen Person (Jesus oder Sokrates) als Vorbild für die rechte Lebensführung, c) die Betonung gegenseitiger Liebe und Fürsorge, d) die Weigerung, erlittenes Unrecht zu vergelten, und die »Feindesliebe«, e) die soziale Dimension menschlichen Handelns. Für alle fünf Bereiche gelingt es T., wesentliche Ähnlichkeiten zu belegen, wobei er auch die Differenzen nicht verschleiert – so weist er z. B. darauf hin, dass das Gottesbild, auf dem die ethischen Weisungen basieren, in der Stoa und bei den Christen verschieden ist und dass daraus freilich Konsequenzen für die Ethik resultieren. Es fragt sich jedoch, ob diese Konsequenzen hinreichend bedacht sind: Von der göttlichen Dynamik, die menschliches Handeln gerade in den Augen des Paulus leitet, ist in den Analysen kaum die Rede. – Markiert diese Dynamik nicht bei aller Entsprechung doch eine grundsätzlichere Divergenz zwischen den ethischen Ansätzen in der Stoa und im Christentum?
Weniger als die vorangegangenen Darlegungen leuchten die Reflexionen zum »ethical scope« der verschiedenen Morallehren ein, also zur Frage, wem die ethischen Weisungen zugute kommen sollen. Laut der Analyse T.s entwerfen die stoischen Philosophen eine universale Ethik für alle Menschen, wohingegen die christlichen Schriften klar unterscheiden: »Liebe« gebieten sie nur im Blick auf die Mitchristen, gegenüber Nichtchristen sehen sie lediglich ehrenvolles Verhalten vor. An dieser Stelle sind Zweifel hinsichtlich der Ausgewogenheit des Vergleiches angezeigt: Wird hier nicht die von T. zu Recht kritisierte Profilierung christlicher Ethik zulasten der stoischen auf den Kopf gestellt – nun zulasten christlicher Ethik?
Den positiven Gesamteindruck kann diese kritische Anmerkung freilich nicht trüben. Der Studie gebührt hohe Anerkennung: Ihr Verdienst ist es, für das 1. Jh. die Ähnlichkeiten und Bezüge zwischen den ethischen Lehren römischer Christen und Stoiker in überzeugender Weise herausgestellt zu haben.