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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

95–98

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Härle, Wilfried

Titel/Untertitel:

Ethik.

Verlag:

Berlin/New York: de Gruyter 2011. XVI, 522 S. 23,0 x 15,5 cm = De Gruyter Studium. Kart. EUR 39,95. ISBN 978-3-11-017812-8.

Rezensent:

Jörg Dierken

Ein Lehr- und Studienbuch zur Ethik sollte Orientierung über Grundfragen der Disziplin bieten, wesentliche Begriffe übersichtlich einführen, das weite Feld materialer Konkretionen exemplarisch beleuchten und dabei auch die individuelle Handschrift des Autors erkennen lassen. All dies leistet die Ethik von Wilfried Härle. Explizit an seine frühere Dogmatik aus Marburger Tagen an­schließend, legt der emeritierte Heidelberger Systematiker die Summe seiner Tätigkeit als Lehrer der ethischen Teildisziplin des Faches vor. Das Buch wendet sich vornehmlich an Studierende zur einführenden oder repetierenden Lektüre. Übersichtlich gegliedert, bietet es in gut lesbarer Diktion Zugänge zum Gesamtgebiet der (theologischen) Ethik.
Der erste Teil (A: 7–227) entfaltet in sechs Kapiteln gedankliche Grundlagen der Ethik. Den Anfang bilden Begriffsklärungen und konzeptionelle Orientierungen (9–28). Die Ethik erörtere elementare Dimensionen des menschlichen Lebens, die zum Handeln auffordern. Dessen Optionen verlangen nach Abwägungskriterien, für die die Ethik universale Normen zur Geltung bringt. Sie stünden im Gegensatz von wahr und falsch, »weil sie sich auf eine Wirklichkeit beziehen, die angemessen erfasst … oder verfehlt werden kann« (26). Den Spuren universalistischer, kognitivistischer und realistischer Ansätze folgend, vertritt H. eine normative Ethik auf deskriptiver Grundlage. Hierfür stehe in einer theologischen Ethik das »christliche Verständnis der Wirklichkeit« (28 u. ö.) – der springende Punkt der ganzen Konzeption. Bevor dieses Wirklichkeitsverständnis näher entfaltet wird, kommen »soziologische und anthropologische Voraussetzungen der Ethik« (29–64) und ihre »konstitutive[n] Elemente« (65–133) zur Sprache. Von jenen Voraussetzungen aus fokussiert H. den Orientierungs- und Regelungsbedarf im menschlichen Zusammenleben, die ethische Bildungsfähigkeit des Menschen und exemplarische Theorien des Sozialen in rasantem Dreischritt von Platon über Schleiermacher zu Eilert Herms. Unter diesen Elementen erörtert H. die Begriffe des Handelns und des Guten, identifiziert sodann in einem Ausschlussverfahren nur Menschen (und nicht etwa Götter, Dämonen oder ETs) als ethische Subjekte und erkundet schließlich normative Instanzen im Schnittfeld von Heteronomie, Autonomie und Theonomie.
Während heteronome Instanzen die eigene Einsicht übergehen und nur die Differenz von Subjekt und Norm vergegenwärtigten, ließen es autonome Instanzen im weiten Spektrum von Interesse, Gewissen, Gefühl, Intuition und – erstaunlicherweise auch – praktischer Vernunft letztlich an normativer Begründung fehlen. Doch für H. soll auch Vernunft ein »vernehmendes Organ« sein (123). Da für ihn die Differenz von Subjekt und Norm offenbar konstitutiv ist, kämen letztlich nur theonome, die Wahrheitsmomente der anderen allerdings integrierende Instanzen als Quellen des Normativen in Betracht. H. diskutiert das Naturrecht und das Sittengesetz, um sie angesichts ihrer historischen Relativität und Fehlbarkeit auf Gott hin zu übersteigen. Er sei Grund der den Menschen bestimmenden Wirklichkeit, stehe dem seine Bestimmung verfehlenden Menschen zugleich gegenüber und erschließe sich ihm von außen (vgl. 128). Damit hat der Theologe das Fundament seiner Ethik errichtet. H. beschreibt Gott als »Grund und Ziel der Welt«, und als »spezifische Voraussetzungen christlicher Ethik« expliziert er den Schöpfungscharakter der Welt, die Ebenbildlichkeit des Menschen, das Doppelgebot der Liebe und die Dankbarkeit als angemessene Motivation zum Tun des Guten (134–157). Das ursprungs- und zielontologisch eingehegte Verständnis des Menschen als relationales Wesen ist nur teilweise aus dessen eigener Perspektive heraus expliziert, und die hamartiologischen Topoi lassen einem milden Paternalismus Raum. Dem entspricht, dass H.s Beschreibung der »normativen Grundlagen« der Ethik (158–206) im tendenziell altruistisch akzentuierten und letztlich nur von Gott erfüllbaren Liebesgebot gipfelt. Komplementär dazu fo­kussiert die Lehre vom Gesetz dessen überführenden Gebrauch, allerdings weniger im Sinne einer religiösen Deutung der Ambivalenz des menschlichen Lebens denn als Einweisung in die prioritäre Liebe Gottes. H.s konkretester Ort der ethischen Lebenswirklichkeit ist die »existentielle Verantwortung«, in die sich der Mensch gestellt sieht (203). Fehlbarkeitsbewusstsein wäre dazu ein Korrelat. Dass die Ethik zu »Urteilsbildung« befähigen soll (207–228), wird auch der bejahen, der Urteilskraft nicht vom Abgleich mit einem gegebenen Wirklichkeitsverständnis her versteht.
Der zweite Teil des Buches entfaltet »Konkretisierungen der Ethik« (B: 229–446). Exemplarische Themen wie »Menschenwürde« (231–261), »Gesundheit und Krankheit« (262–303), »Sexualität, Liebe und Lebensformen« (304–364), »Gerechtigkeit« (365–391), »Friede« (392–428) und – unter dem auch den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche beschreibenden Titel »Das rechte Wort zur rechten Zeit« – »Sprache« (429–446) werden behandelt. Die Menschenwürde liegt in ihrem Träger selbst begründet und bedeutet sein unverlierbares Anrecht auf Achtung (vgl. 236.242). Sie sei mit dem Dasein als Mensch von Gott gegeben, und das Menschsein wird als aus der Abstammung resultierende Tatsache verstanden (vgl. 234 f.). Theologische und biologische Figuren kommen in der sozialen Bedeutung von Würde überein, dass ihr Träger unbedingt zu achten und für andere unverfügbar ist. Diese in Negationen artikulierte Konsequenz ist im Grundsatz deutlich, auch wenn die Verhältnisbestimmung von Theologie, Biologie und Soziologie zugleich Klärungsbedarf aufkommen lässt. Abgrenzungsfragen wirft H.s Rezeption des antiken Begriffs gestufter dignitas auf, der sowohl universale Menschenwürde als auch nach Lebensleistung differenzierte Würde kenne. Ob ein toter Mensch Menschenwürde »be­sitz[en]« kann (255), sei dahingestellt. Die medizinethischen Überlegungen sind darin überzeugend, dass sie von der ambivalenten Realität des leiblichen Lebens ausgehen und Gesundheit, Krankheit und Behinderung nicht an abstrakten Idealen messen.
Im Blick auf die medizinethischen Probleme an den Grenzen des Lebens werden in eher zurückhaltender Weise die Argumente gegen Stammzellforschung, PID und assistierten Suizid präsentiert. Obwohl H. den Beginn des Lebens des Menschen als Mensch mit der Verschmelzung von Samen- und Eizelle ansetzt und damit die nicht graduierbare Würde gleichsam empirisch gegeben sieht, unterbleiben scharfe Verdikte gegenüber nidationshemmenden Kontrazeptiva oder der Abtreibung im Schwangerschaftskonflikt. Dass damit faktisch der Schutz des Würdeträgers differenziert wird, hat Auswirkungen auf die prinzipiellen Überlegungen zur Menschenwürde. Sie bleiben unerörtert. H.s ausführliche Darlegungen zu Sexualität, Liebe und Lebensformen heben Erstere aus dem Dunstkreis der Sünde und akzentuieren die »Zielvorstellung« ihrer Integration in eine »personale, durch Liebe bestimmte Zweierpartnerschaft« (320), beschreiben sodann Liebe in der Verbindung von Eros und Agape – wobei Agape als höchste ethische Möglichkeit gilt (vgl. 333) – und fokussieren partnerschaftliche Le­bensformen mit einem Akzent auf Familie und Ehe als auch gesellschaftlich bedeutsamste Gestalten. Behutsam werden traditionelle Positionen evangelischer Ehe- und Familienethik modernisiert, deren Bestände nur zurückhaltend mit den rasanten sozialen Veränderungen im Geschlechter- und Generationenverhältnis abgeglichen werden. Das Kapitel zur Gerechtigkeit referiert die klassischen Aristotelischen Unterscheidungen und verbindet dies mit einem Blick auf Rawls’ Konzept von Fairness. Die Darlegungen gipfeln in Überlegungen zur Gerechtigkeit und Liebe Gottes, während aktuelle Reflexionen etwa zur Sozial- und Rechtstheorie unterbleiben. Auch im folgenden Abschnitt zum Thema Frieden werden drängende aktuelle Probleme wie asymmetrische Konflikte oder failing states kaum berührt. Es dominiert der interne Blick auf die Geschichte der kirchlichen Friedensethik seit 1948 bis zur EKD-Friedensdenkschrift von 2007. Die alte Lehre vom gerechten Krieg wird konstruktiv als Theorie der Eingrenzung von militärischer Gewalt vorgestellt. Damit wird zu Recht deren im protestantischen Raum salonfähige Verzerrung als Bellizismus korrigiert, und es finden sich auch leise Hinweise zu ihrer Aktualität. Die ab­schließenden Überlegungen zur Sprache gelten nicht nur dem kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag, sondern werben zudem für eine »Wirklichkeitswahrheit« (438 f.), die mit situationssensiblem Sprachhandeln einhergeht.
Mehr als knapp fällt der abschließende »Überblick über die evangelische Sozialethik« aus (C: 447–467). Stichwortartig werden »Quellen«, »Konzeptionen« und »inhaltliche Schwerpunkte« aufgelistet. Dazu gehören solch komplexe Themen wie Offenbarung und Vernunft, Zwei-Reiche- bzw. Regimenten-Lehre oder der Reich Gottes-Begriff, die auf je ein bis zwei Seiten angerissen werden. Die Stichworte können nur teilweise mit Darlegungen aus den anderen Teilen verbunden werden. Bei der abschließend in zwei Absätzen verhandelten Frage nach der Stellung evangelischer Sozialethik in einer pluralistischen Gesellschaft (vgl. 467) bleibt der Leser mit der Frage, wie ›das‹ christliche Wirklichkeitsverständnis sich zu der Vielheit möglicher anderer verhält, weitgehend auf sich gestellt.
Überblickt man die Gesamtkonzeption von H.s Ethik, lassen sich je nach Rezipientenperspektive mehrere Ebenen der Würdigung unterscheiden. Als einführendes Studien- und Lehrbuch wird sie gewiss ihre Leser finden. Gleichwohl erstaunt es, dass bedeut­-same Themen wie die Ethik des Politischen oder der Begriff des Rechts nur beiläufig vorkommen und nicht zusammenhängend erörtert werden. Mehr noch gilt dies für das im Protestantismus zentrale Thema der Freiheit. Aktuelle Probleme der ethischen Lebenswirklichkeit werden häufig nur am Rande angesprochen. Damit ist die Stellung im Konzert ethischer Gesamtdarstellungen markiert. Der konzeptionelle Grundbegriff, das christliche Wirklichkeitsverständnis, lässt nicht nur die Frage nach seiner Position in einer Pluralität konkurrierender Verständnisse aufkommen, sondern auch die nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und ihrem (theologischen) Verständnis, das als Verständnis von dieser Wirklichkeit nicht gleicherweise auch deren Bestandteil sein kann. Solch verwickelte epistemische Probleme gehören wohl eher ins theologische (Ober-)Seminar. Es ist zu hoffen, dass für die Leser die Erstbegegnung mit der theologischen Ethik nicht mit ihrem Studienabschluss zusammenfällt.