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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

93–95

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Fuß, Tilman

Titel/Untertitel:

Das ethisch Erlaubte. Erlaubnis, Verbindlichkeit und Freiheit in der evangelisch-theologischen Ethik.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 240 S. 23,2 x 15,5 cm. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-17-021817-8.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Die Thematik des Erlaubten wird gegenwärtig in der Ethik nur marginal erörtert. In der hier vorzustellenden Bonner Dissertation von Tilman Fuß wird sie nicht nur ethikgeschichtlich untersucht, sondern auch in ihrer Bedeutung für die Gegenwart erfasst. Als ethisch erlaubt wird entweder das ethisch Indifferente bezeichnet, also Handlungen, die weder mit einem Gebot oder Verbot belegt sind – wie die Bereiche von Sport, Freizeit, Erholung und Kunst. Oder es geht um eine Handlung, die »einen Ausweg aus einer Konfliktsituation kollidierender Pflichten bietet« (11) – wie die Notlüge. Der prominenteste Kritiker der ethischen Erlaubnis war Fried­rich Schleiermacher, so dass die Analyse seiner Auffassung für diese Arbeit zentral ist (55–108). Diesem zweiten Kapitel ist ein Überblick über vorhergehende wichtige historische Positionen vorgeordnet: Stoa, Cicero, Paulus, Ambrosius, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Luther, Grotius, Pufendorf, Kant und Fichte (13–54). Im Anschluss an Schleiermacher wird die Rehabilitierung des Er­laubten von Richard Rothe und Johann Tobias Beck versucht (109–126). Das vierte Kapitel ist der Synthese von Erlaubnis und Verpflichtung bei Julius Köstlin gewidmet (127–142), das fünfte der Schule Albrecht Ritschls (143–179). Das letzte Kapitel zieht dann eine systematische Linie zur gegenwärtigen theologischen Ethik (180–225). Diese breit aufgestellten und unterschiedlichen Ansätze fasst F. im Hinblick auf seine Fragestellung sehr präzis zusammen, verarbeitet die entscheidende Sekundärliteratur, stellt die maßgeblichen Punkte und die Bedeutung seiner Fragestellung für eine heutige Ethik einleuchtend heraus.
F. macht deutlich, dass bei den elf Ansätzen der Theoriegeschichte vor Schleiermacher mehrheitlich die Vorstellung eines sittlich indifferenten Handelns kritisiert wird, während Duns Scotus – gegen Thomas – »die Möglichkeit indifferenter Handlungen« (32) erwägt. Schleiermacher hat als Erster das Thema in seinem Vortrag Über den Begriff des Erlaubten (1826) selbständig abgehandelt. F. zieht weitere philosophische und theologische Schriften Schle­i­ermachers heran und kommt zu dem Ergebnis: »im Sinne ab­schließender Urteile ist der Begriff des Erlaubten oder ein begriffliches Äquivalent für Schleiermacher in der christlichen Sittenlehre ebenso unhaltbar wie in der philosophischen Ethik« (87). Das Erlaubte hat für ihn nur in einer sog. negativen Sittenlehre Platz, in der der »Vernunft keine eigentlich hervorbringende Rolle für das mensch­-liche Handeln« (88) zukommt, die er aber für seine Ethik in An­spruch nimmt. Stattdessen verortet Schleiermacher den »Begriff des Erlaubten … in der Rechtssphäre« (90). Die Widerlegung des Erlaubten ist für Schleiermacher als »Widerlegung der Möglichkeit sittlich überhaupt indifferenten Handelns« (102) wichtig. Aufgrund seines Systemdenkens muss der Gegenstand der Ethik eine Ganzheit darstellen. Das Erlaubte dagegen unterläuft diese Ganzheit – und eine es berücksichtigende Ethik wäre nicht wissenschaftlich. Dieser Ganzheitsgedanke ist bei Schleiermacher in seiner religiösen Weltdeutung begründet (103–108). Die beiden Außenseiter Rothe und Beck haben »die Ausschließung sittlich indifferenten Handels« (109) in der Ethik übernommen, aber die christliche Sittlichkeit – wegen der dogmatischen Bestimmungen der Wiedergeburt und Heiligung – als unabhängig von Gesetz und Pflicht bestimmt, da die Christen in theonomer Bezogenheit leben. Bei Rothe konkretisiert sich der Bereich des Erlaubten derart, »dass das, was in allgemein-ethischer Betrachtung als vom Gesetz geboten erscheint, für den wiedergeborenen Christen in Erlaubnis übergeht« (115). In Becks biblischem Realismus wird das Gesetz »nicht außer Kraft gesetzt, sondern es wird in geistlicher Weise verinnerlicht und verliert immer mehr seinen imperativischen Cha­-rakter« (123). Das Erlaubte ist damit vom Gebotenen nicht präzis unterscheidbar – und wird nur noch im Sinn des usus elenchticus verstanden. Diese Rehabilitation des Erlaubten konnte im 19. Jh. keinen Konsens stiften. Dagegen rehabilitiert Köstlin den Pflichtbegriff für die theologische Ethik und verbindet ihn mit dem Erlaubten, indem er ihm ein latentes Gesolltsein konzediert.
Während Otto Scheel durch den Gedanken des Erlaubten das individual-ethische Persönlichkeitsideal gefährdet sieht, verteidigen Ritschl und seine Schüler Wilhelm Herrmann und Hans Hinrich Wendt den Begriff des Erlaubten. Ritschl bindet »das Erlaubte anstatt durch die Pflicht durch die Tugend in die Einheit sittlichen Wollens und Handelns« (167) ein. Das Erlaubte ist für Herrmann von Gott gewährt. »Sie als solche zu genießen und Gott für sie zu danken … ist die Brücke, über die … die sittliche Gesinnung eindringt und dem Menschen darin ein gutes Gewissen bewahrt« (161). Für Wendts christliche Ethik ist die »Liebespflicht« (175) spezifisch. Er bindet so den Begriff des Erlaubten an die Pflicht, da die erlaubten Handlungen der »›christlich-sittliche[n] Lebensaufgabe‹ zu- bzw. untergeordnet sind und sein sollen« (179).
Damit ist die Darstellung der Diskussion über den Begriff des Erlaubten aus dem 19. und dem frühen 20. Jh. abgeschlossen. Im letzten Kapitel systematisiert F. die repräsentativen Positionen: Der Handlungsbereich des Erlaubten »ist nicht das Pflichtwidrige«, das vom »supererogatorischen Handeln« (181) unterschieden wird. Das Erlaubte steht nicht in einer radikalen Alternative zur Pflicht, sondern wird über den Gedanken des mitteilbaren individuellen Gesetzes vermittelt (188–193). Den Gedanken der Verpflichtung begründet F. aus der Identität der handelnden Person, die im Sinne der Postmoderne nicht starr, sondern modifizierbar gedacht wird, so dass – gegen Schleiermacher – im Sinn des Erlaubten »Freiräume« (201) des Handelns bestehen. Sodann erwägt F. die Bedeutung religiöser Momente für die Bestimmung sittlicher Identität und grenzt sich von dem möglichen protestantischen Rigorismus ab, der »zur Ausscheidung des Begriffs des Erlaubten führt« (204). Die dagegen betonte »Abkehr von einem überdehnten Eindeutigkeitsanspruch [der theologischen Ethik] und die aufgeschlossene Zu­wendung zum Relativen, Uneindeutigen und Ungewissen« (208) unterlegt F. mit dem Hinweis auf die Bedeutung des ethischen Kompromisses bei Wolfgang Trillhaas. Von ihm aus ist das Erlaub te Ausdruck der von Gott dem Menschen zugesprochenen ur­sprünglichen Freiheit. Da dieser Freiheitsbegriff nicht exklusiv offenbarungstheologisch entwickelt ist, »sondern anthropologisch und phänomenologisch …, ist Trillhaas’ Erörterung der ethischen Erlaubnis nicht prinzipiell auf die christliche Ethik festgelegt, sondern lässt sich in philosophischer und anders religiöser Ethik rezipieren« (218). Diese Arbeit fordert evangelische Ethik dazu heraus, den Pflichtbegriff nicht inflationär zu gebrauchen, und bildet ihn in den Sachverhalt der Verantwortung um, da so die individuellen moralischen Verbindlichkeiten berücksichtigt werden können. Folglich wird der Pflichtbegriff nicht nur imperativisch im Sinn eines Sollens verstanden, sondern die konsiliatorische Aufgabe der Ethik hervorgehoben. Damit zeigt diese Arbeit vorbildlich, dass eine evangelisch-theologische Ethik auf uneindeutige Situationen nicht mit einem antinomischen Rekurs reagieren darf und sich durch die Aufnahme des Gedankens der Abwägung jeglichem Rigorismus verschließt und so anschlussfähig an andere Formen der Ethik bleibt.