Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

91–93

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Fischer, Joachim

Titel/Untertitel:

Luther in der Wirtschaftswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Auswirkungen auf moderne Wirtschaftsethik.

Verlag:

Berlin/Münster: LIT 2010. 356 S. 21,0 x 14,7 cm = Philosophie und Ökonomik, 9. Kart. 34,90. ISBN 978-3-643-10572-1.

Rezensent:

Andreas Pawlas

Ziel dieser 2009 in Tübingen angenommenen und von Eilert Herms betreuten Dissertation ist es, der »Theologie wieder zu einem besseren Ansehen in der Ökonomik zu verhelfen« (309). In einem gewissen Maße und bezogen auf eine sehr spezielle Fragestellung, nämlich auf die im Titel der Dissertation (»Die Rezeption Martin Luthers in der deutschsprachigen Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf die evangelische Wirtschaftsethik heute, dargestellt am Beispiel des Grenznutzens«) vorgegebenen Diskussion um den Grenznutzen, mag ihr das auch gelingen. Dabei ist mit dem ökonomischen Begriff des Grenznutzens der (immer geringer werdende) Nutzenzuwachs gemeint, den die jeweils letzte verbrauchte Einheit bewirkt (23 f.).
Hintergrund für die hier untersuchte, in der Wirtschaftswissenschaft des 19. Jh.s aufgegriffene Beschäftigung mit Luther sei das Bedürfnis damaliger deutscher Ökonomen, sich von der angelsächsischen Ökonomik – namentlich in der Tradition Adam Smiths – abzugrenzen und unter Berufung auf Luther eine Alternative zur klassischen ökonomischen Schule zu entwickeln (18).
Nach einer Einleitung folgen »Dogmengeschichtliche Unter­-suchungen zur Lutherrezeption der ausgewählten Vertreter der deutschsprachigen Nationalökonomik« (26 ff.). Hierbei bezieht sich F. vor allem auf Marx und Engels sowie Roscher und Schmoller. Relativ kurz stellt er für Engels fest, dass eine »eingehende Be­schäftigung mit Luther, die über die normalen Schulkenntnisse hinausginge, nie erkennbar gewesen sei. Dessen wirtschaftsethische Position stehe jedoch in der Frage der Preisbildung den Auffassungen Luthers nahe (59). Es gelte hier aber genauso wie bei den übrigen untersuchten Autoren, dass es offenbar keinen Bezug gebe zu Luthers zentraler Thematik, der Rechtfertigungslehre (19) – allerdings genauso wenig wie zu der daraus folgenden lutherischen Berufslehre.
F. setzt sich sodann detaillierter mit Marx auseinander und hält fest, dass Marx Luther »zu einem Polemiker verkürzt, aber nicht als ernsthafte[n] Gesprächspartner« ansehe. »Marx verfälscht und verkürzt Luther in einer Weise, die erschreckend ist.« Es finde kaum eine Auseinandersetzung mit Luther statt. An ihre Stelle trete in fast allen Fällen »die Verkürzung der Zitate bis zur Sinnwidrigkeit, damit sie in Marx’ Theorie passen. Die einzige richtige Wahrneh mung Luthers begegnet im Kapazitätserweiterungseffekt« (149. 278 ff.332 f.). Interessant ist, dass F. meint, bereits bei Luther eine Darstellung des Grenznutzens in WA 51, 375,27–376,27 entdecken zu können, was im Blick auf die Unterscheidung von Grund- und Zusatznutzen sowie einer Sättigungsgrenze (153) stimmen mag, aber wohl kaum hinsichtlich der zu den späteren Grenznutzenschulen gehörenden Marginalanalyse, also der mathematischen Analyse in marginal kleinen Schritten. Immerhin kannte offenkundig Marx die besagte Passage, ignorierte sie jedoch vollständig (152). F. will jedenfalls in diesem Zusammenhang Luther als mo­dernen und liberalen Ökonomen verstehen, so u. a. auch deshalb, weil Luther darauf hinweise, dass alle irdischen Güter nur eine begrenzte Zeit dem sterblichen Menschen zur Verfügung stünden, weshalb sich evangelische Wirtschaftsethik auch noch heute auf Luther berufen und zum Maßhalten beim Konsum der Güter aufrufen könne (155). Allerdings stellt F. hier Luther nicht kritiklos dar. Z. B. verweist er in diesem Zusammenhang auch auf die be­kannten Grenzen Luthers durch sein ständisch geprägtes Denken (156). – Insgesamt analysiert F., dass sich Evangelische Ethik nicht auf Marx berufen könne, da vor allem Marx’ Menschenbild zu einseitig auf die Habgier ausgerichtet sei und der Subjektivität des Menschen keine Rechnung trage.
F. zeigt nun überzeugend, dass eher Roscher als Anknüpfungspunkt für eine »Wirtschaftsethik evangelischer Prägung« dienen könne (238), vor allem, weil Roscher eine Nähe zur Anthropologie Luthers habe und erkenne, dass es Grenzen der Bedürfnisbefriedigung gebe, die allerdings »in höchstem Masse subjektiv und von verschiedenen Faktoren abhängig« seien (239). Wenn Roscher so Mensch und Wirtschaft mehrdimensional sehe und erkenne, dass es Wechselwirkungen zwischen Religion und Wirtschaft gebe, so dürfe doch nicht übersehen werden, dass viele seiner historischen Belege und konkreten Vorschläge zeitgebunden und überholt seien. Dennoch sei »die grundsätzliche Anlage seiner Theorie noch heute für evangelische Theologie interessant« (240). F. untersucht dann auch Schmoller (209 ff.), würdigt dessen heute noch aktuelle Kritik an der Anthropologie der angelsächsischen Nationalökonomen, findet insgesamt aber nur wenig, was »über Roscher hinaus für die evangelische Wirtschaftsethik fruchtbar gemacht werden könnte« (240).
Danach bringt F. diese Erkenntnisse mit zeitgenössischen An­sätzen evangelischer Wirtschaftsethik in Verbindung. So meint er, dass etwa Arthur Rich in unfruchtbarer Weise »die Autonomie der Wirtschaft« nicht respektiere und den Grenznutzen einfach infrage stelle (247 f.), wohingegen Eilert Herms sich »bestimmten Aspekten« (also »sicher« Fragen des Grenznutzens als Teil der »universalen Bedingung des Menschseins«) nicht verschließe, sondern sie integriere (251 f.). Sodann sieht F. in der Denkschrift der EKD »Ge­rechte Teilhabe« von 2006 Anknüpfungsmöglichkeiten an Roschers Ansatz, urteilt aber, dass Roscher hinsichtlich Armut und Armutsbekämpfung weit über die Denkschrift hinausgehe in seiner Prüfung der »volkswirtschaftlichen Folgen einer voraussetzungslosen Unterstützung der Armen« und insofern verdiene, gelesen und diskutiert zu werden (277 f.).
In seinem letzten, resümierenden Abschnitt »Ausblick« treibt F. die Frage noch weiter, welche Auswirkungen eine Beschäftigung mit dem Grenznutzen für die heutige Wirtschaftsethik und überhaupt für die theologischen Disziplinen ergebe, und meint, dort durch Betonung des Aspektes der Endlichkeit und Sättigung gute Anregungen zu finden. Konkret ist er der Ansicht, die Wirtschaftsethik Arthur Richs durch Einbeziehung des Grenznutzens in dessen Konzept produktiv ergänzen zu können. So plädiert er auch da­für, in Richs Konzept des »Menschen- und Sachgerechten« Luther als Vorbild für den Aufbau einer Wirtschaftsethik zu nehmen (298 f.) – ohne jedoch den hierbei zu reflektierenden Begriff der Luthe­-rischen Zwei-Reiche-Lehre zu bemühen und ohne zu sehen, dass Richs Ziel hier gerade war, Zwinglis Zwei-Reiche-Lehre ins Spiel zu bringen. F. sieht ferner Auswirkung des Grenznutzens auf die Wirtschafts- und Gesellschaftsethik von Eilert Herms (305 ff.), na­mentlich im Blick auf dessen Anthropologie im Verhältnis zu Luther und Roscher (309 ff.).
Schließlich läuft die Arbeit auf einen »modernen Lösungsvorschlag« zu, in dem in Anknüpfung an Roscher zwar die »Verantwortung des Menschen für seine Wirtschaft« betont wird, aber auch »zeitlose ökonomische Gesetze« (wie etwa der Grenznutzen) theologisch (als »Natürliche Offenbarung«?) zu akzeptieren seien (328 f.). Allerdings weist F. erkenntnistheoretisch sauber sehr wohl darauf hin, dass die Modelle der heutigen Ökonomik nicht mit der ökonomischen Wirklichkeit verwechselt werden dürften, da sie nur ein Abbild der Wirklichkeit darstellten, um bestimmte Fragestellungen zu überprüfen. Allerdings seien in der Aufgabe, solche Überprüfungen vorzunehmen, alle Wissenschaften, einschließlich der Theologie, miteinander verbunden und »gleichberechtigte Partner« (328 f.).
Wenn F. zusammenfassend im Grenznutzen ein »altes reformatorisches Erbe« sieht, das »bislang in der Theologie nicht beachtet wurde« und das »zur Verständigung und zur Auseinandersetzung der Theologie mit der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft dienen« kann (330), so mag das unter Ausklammerung der Marginalanalyse eine Berechtigung haben.
Und wenn F. dann ferner festhalten will, dass u. a. Sünde und Rechtfertigung außerhalb der Wirtschaft stünden und nur mittelbar auf sie einwirkten, weshalb diese Begriffe in der Wirtschaftswissenschaft nicht verwendet werden dürften (331), dann klingen darin ernste, in der Lutherischen Zwei-Reiche-Lehre erörterte Probleme an. Dennoch muss gefragt werden, ob der Begriff des Grenznutzens für F.s zum Teil originelle Untersuchungen belastbar ge­nug ist. Hätte der Begriff der Endlichkeit (155) hier nicht schon hilfreiche Impulse geben können? Wie dem auch sei, F. eröffnet einen anregenden Diskussionsgang und es ist zu wünschen, dass er in Theologie und Ökonomie fortgesetzt wird.
Allerdings hätte es der Arbeit gut getan, wenn sie um die nicht wenigen, zum Teil sinnentstellenden Fehler bereinigt worden wäre.