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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

88–91

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Voßhenrich, Tobias

Titel/Untertitel:

AnthropoTheologie. Überlegungen zu einer Theologie, die aus der Zeit ist.

Verlag:

Paderborn/München/Wien/ Zürich: Schöningh 2007. 376 S. gr.8°. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-506-76323-5.

Rezensent:

J. Christine Janowski

Bei diesem Buch, das einen ziemlich änigmatischen Titel und Un­tertitel trägt, handelt es sich um eine geringfügig überarbeitete Salzburger katholische Dissertation. Entstanden bei G. M. Hoff, ist die Arbeit von Tobias Voßhenrich zugleich dem Kölner Lehrer H.-J. Höhn dankbar verpflichtet (6), wobei Hoff und Höhn zu den wenigen deutschsprachigen systematischen Theologen gehören, die sich auf die sog. Postmoderne eingelassen haben.
Klingt »AnthropoTheologie« für jemanden, der durch L. Feuerbach hindurchgegangen ist, zunächst einmal nach einem Reduktionismus, der – kontextualisiert – durch das »aus der Zeit« im Un­tertitel unterstützt zu werden scheint, so hat der Vf., der leider nicht auf diese Problemgeschichte reflektiert, doch etwas anderes im Sinn. Denn es geht ihm mit »AnthropoTheologie« – ein Begriff, mit dem er, wie erst sehr spät deutlich wird (Kapitel 7, 187 ff.), in postmodern modifizierter Schreibweise (16) an J. Splett und E. Möde anknüpft – um eine Theologie mit folgenden programma­tischen Grundzügen: 1. Sie setzt »sich dem Menschen und den Erfahrungen gelebten Glaubens« aus und will speziell »Glaubensreflexion im Angesicht der Postmoderne sein« (so summarisch der Klappentext). 2. Sie ist dem Anspruch nach im doppelten Sinne »aus der Zeit«: im Sinne des die Zeitläufe und Teufelskreise unterbrechenden ›Einbruchs Gottes‹ bzw. seines Logos/Wortes aus der Ewigkeit in die Zeit in Jesus Christus und zugleich der grundlegenden Voraussetzung gemäß, »dass Christentum und Theologie niemals zeitlos sind«, darum Theologie »nur als kontextuelle zu denken ist«, durch den solidarischen Grundimpetus bestimmt, »rückhaltlos eine Theologie aus der Zeit« – hier der Postmoderne – zu sein, »ohne in ihr aufzugehen« (13–15), und gerade so »für die Menschen, für die Zeit« zu sein (19). 3. Sie macht sich im Sinne des II. Vatikanums den Auftrag zu eigen, »die Zeichen der Zeit (zu) erforschen und im Licht des Evangeliums (zu) deuten« (15; Gaudium et spes 4), also eine Zeitdiagnose bzw. »Hermeneutik der Zeit« zu geben, um allerdings 4. nicht mehr nur von einem Gegenüber von Welt und Kirche auszugehen, sondern davon, dass diese Differenz nun in jedem Christen und in seiner Glaubensgemeinschaft auszutragen ist – was hier der nach Voraussetzung »basalen Spannung (entspricht), die dem Glauben konstitutiv (eingeschrieben) ist« (ebd.), also den allzu geläufigen Dualismus von Binnen- und Außenperspektive infrage stellt.
Die Einleitung (Kapitel 1) umreißt knapp über das – wie der Vf. weiß – an sich durchaus nicht originäre Grundprogramm hinaus dessen aufbaumäßige, ansonsten im Einzelnen leider nicht me­-thodologisch reflektierte Durchführung (Kapitel 2–13). Da diese Durchführung einem komplexen Netz aufeinander aufbauender und ineinandergreifender Aspekte sowie Thesen entspricht, die sich ein Stück weit schon in den Überschriften des Inhaltsverzeichnisses spiegeln, gehe ich zunächst diesem entlang, um zugleich zur weiteren Grundorientierung auf die eingerückten thesenhaften Zu­sammenfassungen (angefangen von 27 f.36.39 f. bis hin zu 328) zu verweisen.
Kapitel 2 (Fundamentaltheologische Verortung) nimmt be­grün­det Abschied von einer »abstrakten« zugunsten einer »kontextuellen« Fundamentaltheologie, um deren apologetische Teilaufgabe entsprechend weniger als theoretische Verteidigung denn als hermeneutisch-dialogische, auf das auch praktische Zeugnis ge­lebten Glaubens zielende Verantwortung des Glaubens und seiner Hoffnung (1Petr 3,15) in seinem jeweiligen – hier dem europäischen (15) – Kontext mit dessen postmodern zugespitzten Fragen, Zweifeln und Aporien als Ausgangspunkt eines neuen, tastenden Re­dens zu verstehen.
Kapitel 3 (Zeitsignaturen: Phänomenologie der Postmoderne) klärt zunächst den missverständlichen und umstrittenen Begriff »Postmoderne« unter Rekurs auf vor allem W. Welsch als ›radikalisierte‹ und zugleich ›(selbst-)kritische Moderne‹, die durch radikalisierten Pluralismus, der nicht noch einmal an Einheitskonzepte zurückgebunden wird bzw. werden kann, Polyperspektivität, He­terogenität von Lebenswirklichkeiten, Konfrontation mit dem Anderen, auch der Vernunft, gekennzeichnet ist (3.1). Im Sinne der anthropotheologischen Grundorientierung, der gemäß – das ist nun wieder etwas missverständlich formuliert – der Mensch als locus theologicus gilt (16 u. ö., später programmatisch pluralisiert, 344), erfolgt unter Rekurs auf U. Beck und andere eine Reflexion auf den modus vivendi postmodernus (29) bzw. die conditio humana postmoderna (64); und diese wird unter den Grundaspekten »Dimensionen der Individualisierung«, »Faktor Raum: Globalisierung« und »Faktor Zeit: Signaturen der Ambivalenz« sowie »Vita postmoderna – Leben in einer fragmentierten Welt« in ihrer eigenen Dialektik, ihren Paradoxien und Ambivalenzen – gerade auch Entsicherungen – so charakterisiert, dass dem sogar die Infragestellung der evolutiven Grundlagen des »homo sapiens« entspricht (64).
Von da aus kommt es in Kapitel 4 zur Thematisierung von »Religion in der Postmoderne« unter Stichworten wie Individualisierung, Entkirchlichung und Entdogmatisierung, Suche nach Sinn bzw. neuen Mythen angesichts von radikalisierter Kontingenzerfahrung im durch die Moderne entstandenen spirituellen Vakuum und wiederum zu Ambivalenzen angesichts vor allem von »Religionsgebrauch, Religionsproduktion und Sinnsuche« (4.2), zu denen die Partialthese zu vergleichen ist: »Reduzierte Subjektivität produziert so eine reduzierte Form der Religion, die handhabbar und konsumierbar ist, weil sie keinen ›Rest‹ übrig lässt« (85). Die entsprechenden Herausforderungen für Kirche und Theologie (4.3) sind nach dem Vf. so aufzunehmen, dass »der Wunsch nach persönlich-authentischem Erleben und das Verlangen nach Rebellion gegen Ausblendung von Erfahrungen in einer zweckrational ökonomisierten Lebenswelt (aber offenbar auch in den Kirchen)« (87) auch dann ernst zu nehmen ist, wenn »die Sorge um das rationale Profil der Theologie« nicht preiszugeben ist (88; vgl. dazu Kapitel 9 ff.). Genau dies soll hier so geschehen, dass Theologie fundiert wird auf »eine Botschaft, deren Tragfähigkeit gewissermaßen durchlebt worden ist«, insofern »induktiv« statt »deduktiv-idealistisch« verfährt (89).
Das führt in Kapitel 5 (Rückblicke: Schlaglichter einer Verlustgeschichte – Konflikte als theologische Kristallisationspunkte) zu einem Rückgang 1. auf die Schrift in ihrer gewissermaßen »ikonoklastischen«, monoperspektische Wahrnehmung unterminierenden Pluriformität und als selbst schon reflektiertes Zeugnis der ihr zugrunde liegenden (Widerfahrnis-)Erfahrungen (in selbst pluriformen Erfahrungsräumen), zu denen mit G. Ebeling als ihren Ursprungsort hermeneutisch vorzustoßen ist; 2. speziell und mit Folgen auch für die Christologie auf »Divergenzen des Urchristentums« bis hin zu einer Identitätskrise, auf die mit der Kanonisierung der Schrift, dann vor allem mit der Dogmatisierung des Glaubensgutes und der kirchlichen Institutionalisierung als Gestalten der Durchsetzung eines Einheitsparadigmas vermittels von ausgrenzender Abgrenzung bzw. Häretisierung und »Idealisierung« der Theologie reagiert wird. Es führt von da aus 3. auf die herausfordernde, spannungsvolle Synthese von »Athen und Jerusalem«, die 4. bei Origenes noch präsent war, aber dann bald zerbricht, entsprechend 5. auf den Konflikt zwischen Bernhard von Clairvaux mit seiner Theologie aus der spirituellen, schriftvermittelten Praxis gelebten Glaubens und zugleich für sie und der Petrus Abaelards als Beginn einer »System-Theologie«, die sich vom gelebten Glauben allzu sehr entfernt, und 6. auf M. Luther als Theologen einer sapientia experimentalis spezifischer Art. Diese Rückblicke werden 7. gebündelt zu »Anstößen« für eine (postmoderne) AnthropoTheologie, zu denen katholischerseits im 19. Jh. die Theologie Kardinal Newman’s gehört (131 ff.).
Anschließend findet sich in Kapitel 6 ein Rückgang auf die Cognitio Dei experimentalis christlicher Mystik (angefangen von der Abstiegs- bzw. Leidensmys­tik bei Paulus über z. B. Luthers »exegetische Mystik« [H. Oberman] bis hin zu R. Schneider), der über eine definitorische Zusammenschau, aus der protestantische Theologie mit ihrer karikaturbedingten Mystikphobie zu lernen hätte, erneut zum Problem von »Anstößen« für eine (postmoderne) AnthropoTheologie führt (Stichworte: Freigabe des Glaubens und Gottes, Authenzität, Erfahrung der Fremdheit bzw. Abwesenheit oder des Nichterfahrens Gottes, und dies zugunsten eines »durchkreuzten Glaubens«, zu dem die Gebrochenheit durch Anfechtung und Zweifel ebenso wie das Ringen um die Sagbarkeit des Unsagbaren gehört).
Es folgt ein unmittelbarer, als solcher leider nicht begründeter Sprung zu aktuellen (katholischen) Entwürfen anthropotheologischer Art (Kapitel 7), zu­nächst auf K. Rahners sog. anthropologische oder anthropozentrische Wende (7.2), die das System der (katholischen) Schultheologie im Blick auf das Verhältnis von Offenbarung und (auch »mystischer«) Erfahrung auf folgenreiche, allerdings noch transzendentale Weise gesprengt hat, dann auf die weiterführenden Korrektur- bzw. Konkretionsversuche von J. B. Metz, J. Splett, E. Schillebeeckxs, E. Möde und M. Schneider. Von da aus wird summarisch wiederum nach »Anstößen« für eine (postmoderne) AnthropoTheologie gefragt (7.8), und zwar nach »den Kriterien Authentizität und Zeitgemäßheit« (248), zu denen hier insbesondere die an sich alte Rede von Gott als Geheimnis, eine untergründige Affinität zur negativen Theologie und zur Kreuzestheologie sowie das Verständnis von Theologie als suchendem, fragendem Prozess gehört, wie er der Glaubensbewegung selbst entspricht, »die zu reflektieren als Glaubenswissenschaft ihre (der Theologie) Aufgabe ist« (ebd.).
Genau der Präzisierung dieses Selbstverständnisses von Theologie im Zeichen der Postmoderne dienen unter Rekurs auf Bisheriges und auf mannigfach Anderes auch aus der zeitgenössischen, postbarthianischen evangelischen Theologie die folgenden Kapitel über Theologie als »Erfahrungswissenschaft« (8.) und als »Glaubenswissenschaft« (9.) mit den entsprechenden epistemologischen Grenzziehungen (10.), zu denen die reductio in mysterium, verstanden im Sinne von Selbstbegrenzungen theologischer Vernunft (10.5) gehört, schließlich über »Bausteine kritischer [!] AnthropoTheologie« (11.) als theologia hermeneutica, crucifixa (!) und negativa sowie über »Nahtstellen zum postmodernen Kontext«, mit denen es noch einmal zu gut vorbereiteten Zuspitzungen kommt (12.) Es folgt eine wiederum gut vorbereitete »Schlusskonzentration« auf die mit der Postmoderne durchlebte und zugleich hoffnungsvolle, kontrafaktische Frage: »Wo bleibt der Mensch?« (13.) – also nicht nur Gott! Denn beide Fragen gehören hier ebenso zusammen wie christologisch der »schwache Gott« und zugleich der »schwache Mensch« mit seiner Gottverlassenheit am Kreuz und in der Nacht des Karsamstags, die postmodern erfahrungsmäßig in zugespitzter Weise weitergeht (bes. 8.4 ff.) und nach dem Vf. mit insbesondere Metz nicht durch soteriologische Logik zu überspielen sind.
Summa: Es handelt sich um einen durchaus interessanten, sehr reichhaltigen und respektablen »Versuch« (15), sich entwurfsmäßig (ebd.) auf zumal innerkatholisch mutige, für eine Dissertation auch aufgrund der mannigfachen interdisziplinären Bezüge vielleicht übermäßig mutige Weise, theologisch auf die Postmoderne »rückhaltlos« (s. o.), entsprechend entsichert und aporetisch (be­sonders 10.5.2), zugleich durchaus kritisch – aber eben nicht von oben herab – einzulassen. Kritisiert wird dabei auch der gegenwärtige theologische Wissenschaftsbetrieb (315). Dieser Versuch hat angefangen von gewissen methodologischen und begrifflichen Problemen, die bei dem Kunstwort »AnthropoTheologie« und dessen Einführung beginnen, bis hin zu sachlichen Spannungen allerdings gelegentlich nicht gerade geringfügige Schwächen. Doch diese hängen wohl auch damit zusammen, dass der Vf. sich – sehr sensibel und nachdenklich – in einem vielfachen »Zwischen« oder »Da­ zwischen« (14 u. ö., summarisch 328) bewegt. Die daraus reultierenden Schwächen werden aber ein Stück weit aufgewogen durch diverse »Vorstöße« (s. o.) in dieses »Dazwischen«. Im Blick auf den durchaus umstrittenen Beginn der Postmoderne ist der Versuch durch das Problem gezeichnet, sie im Anschluss an eine gelegentliche Äußerung von F. Lyotard mit Auschwitz entstehen zu lassen (330), auch wenn etwas änigmatisch hinzugefügt wird: »Hier wohl als Datum, nicht aber als Termin gemeint« (ebd., Anm. 10). Denn das ausgesprochene Krisenphänomen »Postmoderne« hat schon früher begonnen und wurde – abgesehen von vor allem F. Nietzsche und prophetischen Künstlern wie Schriftstellern – je­denfalls in evangelischer Theologie unterminologisch schon früher diagnostiziert bis propagiert, und zwar gerade von dem erratischen K. Barth, der gelegentlich selbst der Postmoderne zuge­- ordnet wird (z. B. durch D. Korsch), aber eben andere Konsequen-zen zog – allerdings nicht gegenüber dem theologischen Wissenschaftsbetrieb.