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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

83–84

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Temesvári, Cornelia, u. Roberto Sanchiño Martínez [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»Wovon man nicht sprechen kann …«. Ästhetik und Mystik im 20. Jahrhundert. Philosophie – Literatur – Visuelle Medien.

Verlag:

Bielefeld: transcript 2010. 206 S. 8° = Kultur- und Medientheorie. Kart. EUR 23,80. ISBN 978-3-8376-1226-4.

Rezensent:

Günter Bader

Inhalt dieses buchtechnisch gelungenen und von den Herausgebern vorzüglich lektorierten Bandes sind acht Papers aus einem Workshop, der 2008 im Rahmen der zweiten Phase des SFB 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin stattfand. Als neuntes beigefügt wurde das Paper von Renate Schlesier, die Teilprojekt C 7 »Inspiration und Subversivität« moderiert. So entstand ein Band von jeweils außerordentlich anregenden Studien, wobei aus der Perspektive der systematischen Theologie den Arbeiten Hans Stauffachers und Jan Wöpkings spezielle Aufmerksamkeit zufallen dürfte.
»Ist Inspiration für Proust eine mystische Erfahrung?«, fragt Schlesier und gelangt gegen die Thesen von Curtius und Benjamin zum Resultat: Nein, mag für den Irrationalismus der Vielen ›Mys-tik‹ eine angemessene Bezeichnung sein, so zeichnet sich doch der Dichter nach Proust dadurch aus, dass er die mémoire involontaire nicht mystifiziert, vielmehr als Bedingung poetischer Inspiration analytisch durchschaut. Er sprengt die Einschränkungen der »philosophisch-religiösen Tradition«: die Herrschaft des Geistes über die Materie und das Korsett der Abbildtheorie. »Intellektuell-materielle Veräußerung, nicht spirituelle Verinnerlichung ist für Proust der Inbegriff poetischer Kunst.« (151) Unleugbar atmet diese These freie Luft, die man gern klar genannt hätte, wenn sie nicht ihre eigene Eingeschränktheit durch die Unklarheit zweier Bindestriche verriete. Damit ist das Programm des Bandes am Tage. Werden zur Besichtigung des 20. Jh.s Begriffe wie »Ästhetik« und »Mystik« gebraucht, so gilt es in erster Linie, »Distanz« zu wahren. Nichts zu tun hat Prousts Inspiration mit dem Enthusiasmos aus Platons Phaidros (143), nichts moderne Mystik mit mystischer Theo­logie aus pseudodionysischer Tradition. So der generelle Tenor. Schade, denn gerade im Corpus Dionysiacum wurden die Begriffe des Mystischen und Ästhetischen erstmals in griechischen Wortklang versetzt, das heißt in eine Fügung von solcher Brisanz, dass sie selbst im Deutschen bis heute unverzichtbar sind.
Somit ist es ein überwiegendes Nicht oder Nichts, mit dem sich die Mystik der Moderne von derjenigen älteren Formats absetzt, die »religiös« oder »christlich« war, oder gar – der Verführung durch Alliteration folgend – mit »Metaphysik« (Schlesier, 132–134.151) oder »Mythos« (Osman Hajjar, 99 f.) im Bunde stand. Eine solche Negation kann unterschiedliche Intensitäten annehmen. Meist ist von bloßer Kontrarietät die Rede, gelegentlich auch von Kontradiktion (Felix Christen, 75: »diametral entgegengesetzt«; Temesvári, 117: »Gegenmodell«). Andere bevorzugen den Gestus des deliberativen Mehr oder Weniger (Temesvári/Sanchiño Martínez, 7: »weniger auf … einer religiös-mystischen Tradition als vielmehr auf einer Sprach- und Erkenntnisskepsis«; Stauffacher, 25: »weniger auf christliche als auf jüdische bzw. buddhistische und taoistische Mystiktraditionen«). Wieder andere bleiben in Hinsicht auf Mystik ambivalent (Hajjar, 101; Wöpking, 176.199 ff.).
Jetzt jedenfalls – um 2000 – ist es die »profane«, »gottlose« Mystik (Temesvári/Sanchiño Martínez, 7, Anm. 4; Sanchiño Martínez, 49 f.; Schlesier, 135, Anm. 21; Daniel Illger, 159, Anm. 4), die nach ihrer Tradition seit 1900 sucht (Temesvári/Sanchiño Martínez, 7; Wöpking, 196). Dass jedoch zum Thema der gottlosen Mystik unbedingt die Frühromantik um 1800 in Betracht gezogen werden müsste, blitzt nur am Rande auf (Wöpking, 175.196). Und selbst diese Amplitude wäre viel zu kurzatmig. Was müsste erst zu den erstaunlichen Sätzen gesagt werden, die um 1300 Meister Eckhart und um 500 Dionysius Areopagita zur Mystik ohne Gott gesagt haben? Allerdings brächte dies die Anfangsvermutung einer Frontlinie zwischen alter und moderner Mystik zu Fall, die diesen Workshop ins Werk gesetzt hat. Eines ist es, wenn etwa Kurt Ruh durch Grenzen des Alters verhindert war, zur Mystik des 20. Jh.s vorzustoßen, ein anderes, wenn Autoren zu Beginn ihrer Karriere ohne Not eine Grenze ziehen, die sie von der Wahrnehmung älterer Mystik von vornherein dispensiert.
Eine Sonderstelle nimmt Reinhard Margreiter ein. Er führt ein dickes Buch zum Thema bereits in seiner Backlist; vielleicht fließt ihm deshalb seine These gar zu fesch von der Feder, als dass sie hätte vernehmlich werden können für seine leidenschaftlicher ums Wort kämpfenden Mitautoren. Mit Blick auf die zyklischen und katastrophischen Strukturen des symbolischen Prozesses, die Ernst Cassirer auf dem Hintergrund der anodischen und kathodischen Bewegungen des Areopagiten zeichnet, erinnert er daran, dass zur Mystik Dialektik unveräußerlich gehört. Mit Mystik als Kippphänomen bekommt zu tun, wer moderne Mystik einlinig der älteren, gar noch einer religiösen, entgegensetzt.