Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

77–79

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Grøn, Arne, and Claudia Welz [Eds.]

Titel/Untertitel:

Trust, Sociality, Selfhood.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. VIII, 232 S. m. Abb. 23,2 x 15,5 cm = Religion in Philosophy and Theology, 52. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-150597-3.

Rezensent:

Christian Danz

So sehr Vertrauen einen Bestandteil individuellen Lebens bildet, so ist es doch ohne Sozialbeziehungen nicht möglich. Eine bestimmte Person wird der Mensch allein in seinem unterscheidenden Bezug auf Andere. Damit einher geht ein komplexes Verhältnis von Symmetrien und Asymmetrien, die sich im Phänomen des Vertrauens in der Spannung von Offenheit und Abhängigkeit überschneiden. Ohne Vertrauen würde kein Mensch leben und handeln und damit auch keine sozialen Beziehungen aufbauen können. Aber wie kommt Vertrauen zustande? Durch das Selbst oder durch die Anderen? Die Eigenart des Vertrauens im Unterschied zu anderen Weisen des Selbstverständnisses wird an seiner Fragilität ersichtlich. Sie manifestiert sich darin, dass das Vertrauen von seinem Schatten, dem Misstrauen begleitet wird. Ohne die Möglichkeit des Misstrauens gibt es auch kein Vertrauen. Dies wirft nicht nur die Frage auf, wie dieses Phänomen angemessen beschrieben werden könne, sondern auch, in welchem Sinne Vertrauen grundlegend für individuelles und soziales Leben ist. Vertrauen wir anderen Menschen ebenso wie Institutionen? Und wie unterscheidet sich die fiducia des Gottesverhältnisses von dem Vertrauen zu anderen Menschen oder dem Vertrauen auf das Bankensystem?
Diese komplexen Dimensionen des Vertrauens als einem grundlegenden Phänomen menschlichen Lebens in seinen sozialen Beziehungen in interdisziplinären Perspektiven thematisiert zu haben, darf als ein nicht geringes Verdienst des von Arne Grøn und Claudia Welz herausgegebenen Bandes Trust, Sociality, Selfhood gelten, der auf eine gleichnamige Tagung vom 4. und 5. Dezember 2008 an der Universität Kopenhagen zurückgeht. Die in den Band aufgenommenen zwölf Beiträge bieten eine Auswahl der Tagungsbeiträge, die für die Publikation auf dem Hintergrund der Diskussionen in Kopenhagen überarbeitet wurden. Im Fokus des Bandes stehen das individuelle Selbst und die Gesellschaft sowie die komplexen Relationen zwischen beiden. »The issue of trust goes to the core of both sociality and selfhood. Trust appears to be of critical importance both to human interaction and to becoming a self.« (1) Dadurch, dass dieses Themenspektrum aus unterschiedlichen methodischen Perspektiven ausgeleuchtet wird, leistet der Band insgesamt einen grundlegenden und wichtigen Beitrag zu einer analytisch gehaltvollen Erschließung des lebensweltlichen Phänomens des Vertrauens.
Eröffnet wird der Band durch eine von Arne Grøn und Claudia Welz verfasste instruktive Einleitung (Trust in Question, 1–9). In vier Hauptabschnitten mit jeweils drei Beiträgen wird das Phänomen des Vertrauens in seinen unterschiedlichen Dimensionen in dem Band beschrieben. Arne Grøn (Trust, Socialiy, Selfhood, 13–30), Philippe Rochat (Trust in Early Development, 31–43) und Claudia Welz (Trust as Basic Openness and Self-Transcendence, 45–64) thematisieren im Fokus von individuellen und sozialen Bezügen die Frage, in welchem Sinne von einem Grundvertrauen die Rede sein kann. Den problemgeschichtlichen Hintergrund der Erörterungen bietet unter anderem Erik H. Eriksons Behauptung des Phänomens eines Grund- oder Urvertrauens als einer gleichsam angeborenen Gabe. So gewiss mit dieser cum grano salis essentia­-lis­tischen Bestimmung das Phänomen des Vertrauens unterbestimmt ist, so deutlich ist, dass Vertrauen eine »depth dimension of social relations« (15) darstellt, die sich entwicklungspsychologisch in der frühkindlichen Entwicklung in sechs Stufen rekonstruieren lässt (37–41). Den komplexen Zusammenhängen von Vertrauen und Persönlichkeitsbildung gehen die Beiträge von Karen Jones (Counting On One Another, 67–82), Anthony J. Steinbock (Tempora­lity, Transcendence, and Being Bound to Other in Trust, 83–102) und Günter Figal (Trusting in Person and Things, 103–112) nach. Das Vertrauen ist konstitutiv für das Selbst als Person. Aber Vertrauen als eine grundlegende Gewissheit des Selbst liegt nicht vor, sondern muss jeweils individuell angeeignet werden. Diese eigentümliche Form des Vertrauens wird in den Beiträgen von Gry Ardal (Judging about Trustworthiness, 115–133), Ingolf U. Dalferth (›In God We Trust‹: Trust, Mistrust and Distrust as Modes of Orientation, 135–152) und Philipp Stoellger (›In God We Trust‹. Trust in the Making – and in Becoming, 153–169) aufgenommen und in phänomenologischen und hermeneutischen Perspektiven weitergeführt. Vertrauen, so die Autoren, ist ein Geschehen am Selbst. Darin liegt die Entsprechung zum Glaubensbegriff der Reformatoren. »If trust is a metaphor for faith, then the reflection on faith that we call theology is trust-theory« (153). Für das Phänomen des Vertrauens einen Grund aufzusuchen, käme damit einer Verfehlung des Phänomens gleich. »Trust is what it is only by the lack of sufficient reasons. But this insufficiency constitutes the strength of trust.« (158) So wie sich das Gottesverhältnis nicht auf Fakten gründet (148), so ist auch das Vertrauen ein Geschehen im Verhältnis des Selbst zu sich selbst. Dieses Geschehen artikuliert sich und verständigt sich über sich selbst, so wird man sagen können, im Medium des Gottesgedankens. Damit ist deutlich, dass ein substantielles Verständnis des Vertrauens, etwa Eriksons Bestimmung des Urvertrauens, dem lebensweltlichen Phänomen völlig unangemessen ist.
Die Beiträge des letzten Abschnitts diskutieren die Frage, ob dem Vertrauen eine veränderte Funktion zukommt. Burkard Liebsch (Violated Trust and the Self: A Negativistic Approach, 173–191), Lars Hertzberg (On Being Trusted, 193–204) und Anne Marie Pahuus (Creative Trust, 205–216) thematisieren die komplexen Relationen zwischen dem individuellen Selbst und der Gesellschaft unter dem Leitbegriff des Vertrauens.
Im Rahmen dieser Besprechung ist es freilich nicht möglich, alle Beiträge und Aspekte des gelungenen Bandes ausführlich und im Einzelnen zu würdigen. Ingesamt beleuchtet der Band das komplexe Phänomen des Vertrauens in seinen höchst unterschiedlichen Facetten und arbeitet die Überschneidungen und Spannungen, die in dem Vertrauen als einem individuellen Akt liegen, heraus. So wird verständlich, dass Vertrauen, obwohl es strikt an einen individuellen Vollzug gebunden ist, nicht durch intentionale Akte hervorgebracht werden kann. Es begleitet indirekt das Selbstverständnis eines Menschen in seinem Leben. Heidegger fasste eine solche Weise des Sich-Verstehens des konkreten individuellen Selbst als eine Grundstimmung. Die religiöse Weise der Thematisierung dieses Phänomens ist das Gottesverhältnis des Glaubens.