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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

75–77

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Fidora, Alexander, Lutz-Bachmann, Matthias, u. Andreas Wagner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Lex und Ius. Beiträge zur Begründung des Rechts in der Philosophie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2010. XI, 495 S. 24,5 x 16,5 cm = Politische Philosophie und Rechtstheorie des Mittelalters und der Neuzeit. Abtl. II: Untersuchungen, 1. Lw. EUR 168,00. ISBN 978-3-7728-2504-0.

Rezensent:

Christoph Strohm

Ziel der 17 Beiträge dieses Bandes ist es, die Bedeutungsvarianten der Begriffe lex und ius bei ausgewählten Autoren der Zeit zwischen dem 12. und dem 17. Jh. darzustellen. Da diese Begriffe, wie die Herausgeber betonen, im Zentrum der Rechtstheorie des lateinischsprachigen Mittelalters und der Neuzeit stehen, geht es in dem Band auch um die Grundlegung des Rechts aus den unterschiedlichen Perspektiven der Disziplinen der Philosophie, der Jurisprudenz und der Theologie. Die Herausgeber verweisen ausdrücklich auf die aktuelle Bedeutung der Darlegungen: »Die Aufsätze dieses Bandes verstehen sich … nicht nur als Beiträge zur Begriffsgeschichte, sondern sie beziehen sich ausdrücklich auch auf die zentrale Bedeutung, die in den heutigen Debatten zur Grundlegung des Rechts der Frage einer Verhältnisbestimmung von Recht und Gesetz, von Verfassung und juristischer Norm, von Öffentlichem Recht, Privatrecht und Völkerrecht zukommt« (VII).
Zwei Drittel der Beiträge sind dem Mittelalter, ein Drittel Autoren des 16. und beginnenden 17. Jh.s gewidmet. Kenneth Pennington erörtert unter dem Titel »Lex and ius in the Twelfth and Thirteenth Centuries« die Bedeutungsvarianten der Begriffe im römischen Recht, bei Isidor von Sevilla, im Decretum Gratiani und bei Thomas von Aquin (1–25). Pennington stellt die Entwicklung einer Ersetzung des ursprünglichen Begriffs »ius naturale« der römischen Juristen durch den der lex naturalis bei Thomas von Aquin fest. Dadurch seien aus einem an der Gerechtigkeit als Grundnorm ausgerichteten Set an Vorschriften, Rechten und Pflichten eher positivistisch verstandene Regeln und Normen geworden. Orazio Condorellis Beitrag »Ius e lex nel sistema del diritto comune (secoli XIV–XV)« schließt zeitlich unmittelbar an und präsentiert zahlreiche relevante Texte von Glossatoren und Kommentatoren (27–88). Stärker philosophisch-theologische Debatten nehmen die zwei folgenden Beiträge auf. Matthias Perkams behandelt Peter Abaelard, Stephan Langton, Wilhelm von Auxerre, Albertus Magnus, Alexander von Hales, Johannes von La Rochelle und Thomas von Aquin (»Lex naturalis vel ius naturale – Philosophisch-theologische Traditionen des Naturrechtsdenkens im 12. und 13. Jahrhundert«, 89–119). Yossef Schwartz’ Beitrag »Divine Law and Human Justification in Medieval Jewish-Christian Polemic« zeichnet die Debatte um das Naturrecht in die jüdisch-christlichen Auseinandersetzungen um die Weitergeltung des alttestamentlichen Gesetzes ein (121–145). Jason T. Eberl erläutert die These, dass Thomas von Aquin zwar Gott als metaethische Grundlegung menschlicher Moralität verstehe, dies aber keineswegs bedeute, dass die Anerkennung der Exis­tenz Gottes Voraussetzung der normativen Geltung des Naturgesetzes sei (»The Necessity of lex aeterna in Aquinas’s Account of lex naturalis«, 147–174). Die Unterschiede zu Thomas und der aristotelischen Tradition stellt der Beitrag Francisco Bertellonis über den Traktat De regia potestate et papali des Dominikaners und Thomas-Schülers Johannes Quidort heraus (175–194). Alexander Fidora sieht bei dem katalanischen Philosophen und Theologen Raimundus Llullus (ca. 1232–1316) die Unterscheidung von ius und lex fest etabliert. Dieser verstehe das Recht als einen gegenüber dem Gesetz allgemeineren und zugleich grundlegenden Begriff, für den Vernunftgemäßheit charakteristisch sei. Die leges werden dagegen durchweg positivistisch, d. h. als Setzungen, verstanden (195–204). Weit über begriffsgeschichtliche Untersuchungen hinaus gehen die beiden Johannes Duns Scotus gewidmeten Beiträge: Hannes Mühle über »Gesetz und praktische Rationalität bei Duns Scotus« (205–220) und Luis Alberto De Boni über »Legislator, lex, lex naturalis und dominium bei Johannes Duns Scotus« (221–239). Eine prä­zise Bestimmung der Begriffe dominium, ius und lex in der politischen Theorie Wilhelm von Ockhams, die auch den historischen Kontext berücksichtigt, gibt der Beitrag Jürgen Miethkes (241–269). Auffällig ist der ausgesprochen zurückhaltende Gebrauch des Be­griffs lex. Er wird wohl »nur dort unschattiert verwendet, wo entweder die Be­fugnis des Kaisers zur Gesetzgebung nach den Vorgaben des römischen Rechts von der Gesetzgebungskompetenz des römischen Volkes abgeleitet wird, oder auch dort, wo Ockham die lex Christi als lex libertatis den Lasten des ›Mosaischen Gesetzes‹ ge­-genüberstellt« (264). Auch der folgende Beitrag von Gabriele Annas »Recht und Gerechtigkeit in Schriften zur Reichsreform des 15. Jahrhunderts« (271–300) geht über die reine Verhältnisbestimmung der Begriffe lex und ius hinaus. Insbesondere die zentrale Rolle des Begriffs iustitia in den Bemühungen um eine Reichsreform wird belegt und illustriert.
Die übrigen sechs, Autoren des 16. und beginnenden 17. Jh.s ge­widmeten Beiträge behandeln weiterhin eingehend das Erbe des Mittelalters, insbesondere Thomas von Aquin als den entscheidenden Ideengeber. Juan Cruz Cruz untersucht die Vorstellung vom ius gentium bei Francisco de Vitoria (1486–1546), der zwar als unangefochtener Meister galt, dessen Werke aber erst postum in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s gedruckt wurden (301–332). Nach Vitoria gebe es zwei Arten von allgemeinen Gesetzen: einerseits das für das gesamte Menschengeschlecht unveränderliche, notwendige und dem Naturgesetz angehörende und andererseits das Gesetz, das als positives Gesetz freiwillig und veränderlich ist. Vitoria sehe das Völkerrecht beiden zugehörig und nicht zuletzt deshalb betone er die allgemeine, praktisch unumstößliche Geltung des Völkerrechts. Das mit Hilfe des Pseudosuperlativs »ein internationalis­tischer Ansatz« zum Ausdruck bringen zu wollen, erscheint mir eher unglücklich. Merio Scattola deutet das Verhältnis der Begriffe lex und ius in der Naturrechtslehre Domingo de Sotos (1494?–1560), indem er dessen Erörterungen in den Kontext einer umfassenden Traditionsgeschichte stellt. Zusammenfassend beschreibt Scattola das Verhältnis bei de Soto mit folgenden Worten: »Das Gesetz benötigt das Recht und das Recht das Gesetz. Ohne Recht ist das Gesetz stumm, ohne Gesetz ist das Recht sinnlos. So wird vielleicht eine Antwort auf unsere erste Frage gegeben, warum nämlich Soto lex und ius trennen musste und warum er nicht das eine im anderen systematisch aufgehen ließ. Lex und ius sind polar, wie die irdische Ordnung polar ist« (362). Matthias Kaufmann erläutert, dass die Schrift De iustitia et iure des Jesuiten Luis de Molina (1535–1600) nicht vom Gesetz als zentralem Begriff ausgeht, sondern dass hier das subjektive Recht im Mittelpunkt steht (369–391). Einen zweiten, wirkungsmächtigen Jesuiten, Francisco Suárez (1548–1617), untersuchen detailliert John P. Doyle (393–427) und Norbert Bries-korn (429–463). Dessen Konzeption des Völkerrechts ist Gegenstand einer weiteren Erörterung aus der Feder Matthias Lutz-Bachmanns (465–485). Im Vergleich mit Thomas von Aquin wird der eigenständige Beitrag Suárez’ gewürdigt. Thomas von Aquins Verdienste lägen »primär auf dem Gebiet einer moralphilosophischen Begründung der Rolle der Vernunft für die Grundlegung des moralisch-sittlichen ›Gesetzes‹ allgemein für das menschliche Handeln«. Suárez habe »wichtige Einsichten einer modernen Rechtsordnung, insbesondere der Rechtsordnung des Völkerrechts, formuliert […,] die weit über seine Zeit hinaus bis heute für uns bedeutsam sein können« (484).
Der Sammelband bietet tiefschürfende Analysen der Äußerungen wichtiger mittelalterlicher Autoren zum Verhältnis von lex und ius. Die Aufsätze zum 16. und 17. Jh. beschränken sich auf die spanischen Spätscholastiker und Texte spanischer Jesuiten. Der entscheidende Beitrag der humanistischen Jurisprudenz Frankreichs (und Deutschlands), zu deren zentralen Anliegen es gehörte, die kleinteilige Kommentierung des Corpus Iuris Civilis durch Begriffsklärung und Systematisierung des römischen Rechts zu überwinden, wird nicht behandelt. Das ist umso schmerzlicher, als die entsprechenden Autoren ihre Wirksamkeit insbesondere im Bereich des Protestantismus entfalten konnten, während die Jesuiten diese Bestrebungen zu begrenzen suchten. An den von ihnen gegründeten Universitäten wurden die Rechtswissenschaften am kanonischen Recht ausgerichtet und von Moraltheologen gelehrt. Darüber ist in dem Sammelband nichts zu lesen, da sich die Beiträge überwiegend auf die detaillierte textimmanente Analyse wichtiger Schriften konzentrieren. Das ist auch eine Folge der Dominanz des philosophiegeschichtlichen Zugangs. Den zwölf Philosophiehistorikern unter den Autoren stehen nur vier Historiker und zwei Juristen gegenüber.
Ein Personenregister ermöglicht das Auffinden der Passagen, in denen über einzelne mittelalterliche Autoren gehandelt wird. Eine abschließende Zusammenschau oder Ergebnissicherung der Beiträge fehlt. Das wäre auch darum wünschenswert, weil die Texte sich teilweise überschneiden – so in den zahlreichen Erörterungen der Naturrechtslehre Thomas von Aquins. Hilfreich ist, dass jedem Beitrag eine ausgewählte Bibliographie angefügt ist.