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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

71–73

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Siller, Annelore

Titel/Untertitel:

Kirche für die Welt. Karl Barths Lehre vom prophetischen Amt Jesu Christi in ihrer Bedeutung für das Verhältnis von Kirche und Welt unter den Bedingungen der Moderne.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2009. 338 S. 22,5 x 15,0 cm. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-290-17522-1.

Rezensent:

Markus Höfner

Das Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung einer von Wolfgang Lienemann betreuten und 2007 von der Evangelischen Fakultät der Universität Bern angenommenen Dissertationsschrift. In ihren Analysen bearbeitet Annelore Siller die anspruchsvolle und für die gegenwärtige Ekklesiologie (und aktuelle Kirchenreform­dis­kussionen) wichtige Frage, »inwiefern Karl Barths Lehre vom prophetischen Amt Jesu Christi (KD IV/3) für das Verhältnis von Kirche und Welt unter den Bedingungen der Moderne fruchtbar zu machen ist« (11).
Dass diese Frage im Blick auf Barths Überlegungen sinnvoll gestellt werden kann, ergibt sich für die Vfn. aus der Einsicht in die Modernität der Barthschen Theologie selbst: Im kritischen Ge­spräch mit anderen Barth-Interpretationen (Pannenberg, Rendtorff, Schellong u. a.) stellt die Vfn. zu Recht heraus, dass Barths Theologie nicht als anti-moderne Neo-Orthodoxie, sondern als dezidiert moderner, neuzeitlicher theologischer Entwurf zu verstehen ist. Dabei ist die Modernität der Theologie Barths nach dem überzeugenden Vorschlag der Vfn. von vornherein doppelt zu perspektivieren, kann also weder allein durch die interne Analyse seiner Überlegungen noch allein durch eine (historische, religionssoziologische oder christentumstheoretische) Außensicht, sondern nur in der Verbindung beider Zugänge erfasst werden.
Zunächst entfaltet die Vfn. daher – im kritischen Anschluss an die Deutungsvorschläge von Franz-Xaver Kaufmann und Detlef Pollack – eine religionssoziologische Außensicht auf Kirche und Christentum in der Spätmoderne. Sie weist auf die modernitätstypische Pluralisierung von Wertordnungen ebenso hin wie auf Prozesse der Individualisierung von Religion, distanziert sich dabei jedoch zu Recht von der wenig plausiblen These, der Rückgang von Kirchlichkeit in westlichen Gesellschaften würde durch einen ›Boom‹ individualisierter Religiosität kompensiert. Vielmehr liegt die Pointe ihrer Überlegungen in der Einsicht, dass die Kirchen unter den Bedingungen der Moderne ihr gesellschaftliches Deutungsmonopol verlieren und daher vor der Herausforderung stehen, sich als partikulare Größen innerhalb der Gesellschaft verstehen zu müssen. Vor diesem Hintergrund liegt die Modernität – und damit die gegenwärtige Relevanz – der Theologie Karl Barths aus Sicht der Vfn. darin, dass Barth gerade diese Herausforderung aufnimmt und konstruktiv bearbeitet.
Wie dies in Barths Theologie geschieht, entfaltet die Vfn. in vier Schritten: Erstens untersucht sie Barths Diskussion des Religionsbegriffs in KD I/2, § 17. Sie deutet diese überzeugend als den Versuch einer Differenzierung von ›Christentum‹ und ›Kirche‹, in dem theologische Binnen- und nicht-theologische Außenperspektive innertheologisch vermittelt werden. Die Vfn. vermerkt jedoch auch Barths problematische Gleichsetzung von ›wahrer Religion‹ und ›Kirche‹, durch die bei Barth selbst die Einsicht wieder verdunkelt wird, dass auch die christliche Kirche aus nicht-theologischem Blickwinkel wahrgenommen werden kann und muss. Zweitens entwirft die Vfn. eine detailreiche und umfassende Darstellung der Barthschen Lehre vom prophetischen Amt Jesu Christi, die sie als Schlüssel zu Barths dezidiert neuzeitlicher Deutung des Verhältnisses von Kirche und Welt ausweist. Drittens zeigt die Vfn. durch pointierte Analysen auf, inwiefern Barths Bestimmung des Kirche-Welt-Verhältnisses in der Lehre vom prophetischen Amt Jesu Chris­ti grundgelegt ist. Dabei kommt das Verhältnis der Prophetie Jesu Christi zu menschlichen Worten ebenso zur Sprache wie die von Barth angenommene Realpräsenz Jesu Christi extra muros ecclesiae. Viertens unternimmt es die Vfn., ihre grundsätzlichen Beobachtungen in äußerst knappen Analysen der materialen Ekklesiologie Barths in KD IV/3 zu profilieren.
Insgesamt gelingt der Vfn. eine umsichtige und profunde Analyse der Barthschen Lehre vom prophetischen Amt Jesu Christi und ihrer ekklesiologischen Implikationen. Ihre Bestimmung des mo­dernitätsspezifischen Problemhorizonts und Profils der Theologie Barths kann dabei ebenso überzeugen wie ihre grundlegende These, dass mit Barths Ekklesiologie eine wegweisende Bearbeitung der Herausforderungen vorliegt, die sich aus der gesellschaftlichen Partikularität der Kirche in spätmodernen westlichen Gesellschaften ergeben. Die Barth-Interpretation der Vfn. provoziert allerdings auch kritische Rückfragen.
So bleibt etwa unklar, ob die Vfn. Barths Rede von den ›Gleichnissen des Himmelreiches‹ in der Tat als Ausweis einer auch jenseits der institutionellen Kirche existierenden »Gemeinde und Christlichkeit« (319) interpretieren will oder es doch bei der – plausibleren – These belässt, die Realpräsenz Jesu Christi außerhalb der Kirche spiegele sich in der »Menschlichkeit der Menschen« (285). Auch hätte man sich an manchen Stellen einen etwas kritischeren Blick auf Barths Überlegungen gewünscht. So übersieht die Vfn. etwa den latenten Triumphalismus in Barths Lehre von der Prophetie Jesu Christi, dem in Barths Ekklesiologie die Tendenz kor­res­pondiert, die kirchliche Herausforderung institutioneller Selbsterhaltung zu vernachlässigen. Die Wahrnehmung dieser Problematik hätte die Vfn. davor bewahren können, ihr systematisches Fazit in die falsche Alternative ›Vertrauen auf das universale Versöhnungshandeln Gottes oder Sorge um eigene Mitglieder und Strukturen‹ münden zu lassen (vgl. 322). Bedauerlich ist schließlich, dass die Vfn. der materialen Ekklesiologie Barths in KD IV/3 nur eine knappe Skizze von 20 Seiten widmet – gerade nach der hohen Qualität der vorangehenden Analysen hätte man gerne gewusst, wie die Vfn. die ekklesiologischen Konkretisierungen des mit der Lehre von der Prophetie Jesu Christi gegebenen Ansatzes in Barths Konzept einer ›Kirche für die Welt‹ interpretiert.
Trotz dieser Mängel kann die Arbeit jedoch allen an Barths Theo­logie und/oder am gesellschaftlichen Ort der Kirche in der Moderne Interessierten empfohlen werden; sie bekommen nicht nur eine sachkundige Darstellung der Barthschen Lehre vom prophetischen Amt Jesu Christi geboten, sondern auch einen überzeugenden Zugang zum neuzeitlichen Profil seines theologischen Entwurfs.