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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

50–52

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gemünden, Petra von

Titel/Untertitel:

Affekt und Glaube. Studien zur Historischen Psychologie des Frühjudentums und Urchristentums.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 389 S. m. Abb. 23,2 x 15,5 cm = Novum Testamentum et Orbis Antiquus. Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 73. Geb. EUR 80,95. ISBN 978-3-525-53385-7.

Rezensent:

Christian Strecker

Petra von Gemünden nimmt sich in dieser Studie eines wichtigen Themas an. Sie untersucht den Umgang mit Affekten in ausgewählten frühjüdischen und neutestamentlichen Schriften im Kontext der antiken Affektpsychologie, wie sie auch in diversen griechisch-römischen Schriften zum Ausdruck kommt. Die Arbeit leis­tet damit einen Beitrag zur interdisziplinären Emotionsforschung. In der Psychologie setzte die wissenschaftliche Untersuchung von Gefühlen und Affekten verstärkt in den 1980er Jahren ein. Inzwischen werden die kulturellen Bewertungen, Repräsentationsformen und Kulturtechniken der Evozierung bzw. Disziplinierung von Emotionen auch in anderen Wissenschaften intensiv erforscht. Neben der Kunstgeschichte gilt dies namentlich für die Literaturwissenschaft (»Affektpoetik«) und die historische Forschung (s. nur J. A. Steiger [Hrsg.], Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, 2 Bde., Wolfenbüttel 2005). In der neutestamentlichen Wissenschaft macht sich der sog. »emotional turn« mit wenigen Ausnahmen (z. B. G. Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Chris­ten. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007) bisher kaum bemerkbar. Umso verdienstvoller ist das angezeigte Buch.
Es enthält 13 in den Jahren 1993 bis 2007, zum Teil in franzö­sischer Sprache, publizierte Aufsätze in überarbeiteter bzw. übersetzter Form, ferner drei neu verfasste Beiträge. Die Zusammenstellung mehrerer Aufsätze zu einem Hauptthema hat freilich zur Folge, dass man bei der Lektüre zahlreiche Wiederholungen in Kauf nehmen muss. Grundlegende Einsichten und Textanalysen werden mehrfach dargeboten. Dies ändert nichts an dem innovativen Charakter der Ausführungen, die G. als Beitrag zu einer »Histo­-rischen Psychologie« versteht. Das Buch ist nach einem einführenden Vorwort in sechs Hauptteile untergliedert.
Der erste Teil trägt den Titel »Allgemeine Überlegungen«. Dort finden sich zunächst »Methodische Überlegungen zur Historischen Psychologie« (13–33). G. problematisiert darin das Postulat anthropologischer Konstanten und die These der Unveränderlichkeit der menschlichen Psyche. Sie stellt sieben methodische Ansätze vor, die einen Zugriff auf die antike Affektpsychologie jenseits anachronistischer Vereinnahmungen ermöglichen sollen. Diese Ansätze werden jeweils am Beispiel des Umgangs mit Trauer exemplifiziert. An erster Stelle steht die Wortsemantik. G. zeigt auf, dass Affektbegriffe zeit- und kulturabhängig mit unterschiedlichen Assoziationen und Wertungen verbunden sind. So gehen dem deutschen Wort »Trauer« jene aggressiven (Zorn, Kränkung etc.) und körperlichen (Hunger, Durst etc.) Bedeutungskomponenten ab, die die griechischen Worte λύπη/λυπεῖν aufweisen. Darüber hinaus macht G. Riten, ikonographische Darstellungen, soziale und geschlechtsspezifische Settings sowie in Diskursen verdichtete Überzeugungen, Werte und Symbole als weitere Ansatzpunkte für eine historische Psychologie namhaft.
In einem zweiten grundsätzlichen Beitrag widmet sich G. der »Affektkultivierung in neutestamentlicher Zeit« (34–51). Ausgehend von Norbert Elias’ Thesen über die zunehmende Affektkontrolle in der westlichen Zivilisation seit dem Mittelalter geht G. den Konzepten der Affektbewältigung in der Antike nach. Generell seien zwei Arten der Affektkontrolle zu unterscheiden, nämlich Metriopathie (Mäßigung der Affekte) und Apathie (Beseitigung der Affekte). Dem Historiker August Nitzschke folgend könne man hinsichtlich der in der Affektkontrolle wirksamen Kräfte überdies eine autodynamische (der Mensch herrscht selbst über seine Affekte), eine heterodynamische (eine fremde Macht herrscht über die Affekte) und eine transformationsdynamische (es findet ein Wandel in der Affektbeherrschung statt) Variante unterscheiden. Im 4. Makkabäerbuch begegne die erstgenannte Form. Das Buch propagiere eine Beherrschung der Affekte vermittels der sich an der Tora orientierenden menschlichen Vernunft. Philon von Alexandrien gehe dagegen von einer Stufenfolge aus. Diese reiche vom Tor, der den Affekten ausgeliefert sei, über den Vorwärtsstrebenden, der die Affekte mittels Tora und Vernunft kultiviere, bis hin zur Apathie des Vollkommenen. Insofern Gott dem Menschen auf dem Weg zur Vollkommenheit helfe, liege hier eine heterodynamische Form der Affektkontrolle vor. Aufgrund seines rundweg pessimistischen Menschenbildes (Röm 7) sei bei Paulus die Bewältigung der Affekte einzig kraft einer durch den Geist Gottes bewirkten grundlegenden Transformation des Menschen möglich. Hier begegne mithin die Variante einer transformationsdynamisch fundierten Affektbeherrschung.
Im zweiten, umfänglichsten Teil bespricht G. vornehmlich Einzelaspekte der in hellenistisch-jüdischen Schriften thematisierten Affektbeherrschung. Drei Beiträge widmen sich Philon. Erörtert werden seine Zeichnung Jakobs als Modell einer fortschreitenden und am Ende zur Gottesschau führenden praktischen Einübung in die Affektkontrolle (55–68), seine Darlegungen zur Erlangung äußeren und inneren Friedens auf den Wegen des Lernens, der Übung und der Entfaltung der Güte der Natur (69–93) sowie seine Rückführung der Auflösung der öffentlichen Ordnung 38 n. Chr. in Alexandria auf den Verlust der individuellen Affektkontrolle des römischen Statthalters Flaccus (94–117). Nach einigen Ausführungen zur identitätsstiftenden Bedeutung der vermittels vernünftigen Toragebrauchs möglichen Affektkontrolle im 4Makk und der konträren Qualifizierung des Nomos in Röm 7 (118–137) folgen Überlegungen zu diversen Wertungen der Rolle der Frau bzw. des Weiblichen in Sachen Affektbeherrschung bei Euripides, dem 4Makk, Philon und Paulus (138–159).
Unter der Überschrift »Judenchristentum« geht G. im dritten Teil zunächst dem Umgang mit Zorn in der Bergpredigt nach, die anders als die Oberschichtsautoren Seneca und Plutarch dessen soziale Einbettung in die Gemeinde akzentuiere, von daher die Verantwortung für den Bruder betone und die Verzweckung der Feindesliebe für das persönliche Fortkommen ignoriere (163–189). Es folgen Überlegungen zur Anthropologie und heteronomen Affektkontrolle im Jakobusbrief (190–204). Im vierten Hauptteil finden sich drei Beiträge zu Paulus und der Paulusschule, und zwar zur christologisch begründeten Transformation der Affekte im Gottes- und Menschenbild des Römerbriefes (190–225), zur ritualgestützten, d. h. in der Taufe verankerten Affektbewältigung in den Proto- und Deuteropaulinen (226–247), und (mit G. Theißen verfasst) zum Denken in affektgeprägten Bildern im Römerbrief (248–276). Im fünften Hauptteil findet sich ein Beitrag zu den Strategien der Angst- und Aggressionsbewältigung im Johannesevangelium (279–306). Das Buch schließt mit einem Artikel zum Thema »Affekte und Affektkontrolle im antiken Judentum und Urchristentum« (306–328), der zahlreiche Ergebnisse wiederholt und überdies im Hirten des Hermas eine besondere, »tiefendynamisch« genannte Form der Affektkontrolle ermittelt, die einer nur im Gegenüber zu Gott erreichbaren vertieften Selbsterkenntnis aufruhe (309–328).
Angesichts der großen Bedeutung, die zumal kaiserzeitliche Autoren dem Thema der Affektbewältigung und der »Therapie der Begierde« (M. C. Nussbaum) zumaßen, erstaunt das bisher ge­ringe Interesse der neutestamentlichen Exegese daran (s. aber S. K. Stowers, A Rereading of Romans, New Haven/London 1994, 46 ff.). G. gelingt es, die hohe Relevanz der Affektpsychologie für die neutestamentliche Exegese aufzuzeigen. Auch wenn man selbstredend andere Akzente bei den Deutungen der antiken Texte setzen mag (im Paulusteil bleibt z. B. die »neue Perspektive« unberücksichtigt) und ein intensiverer Dialog etwa mit der Diskursgeschichte oder Ritologie denkbar wäre, verdient G.s anregende Studie Beachtung. Sie erschließt neue Sinnhorizonte und öffnet insgesamt ein weites Forschungsfeld, das weitere Bearbeitung verdient.