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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

43–44

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Broadhead, Edwin K.

Titel/Untertitel:

Jewish Ways of Following Jesus. Redraw­ing the Religious Map of Antiquity.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XIX, 440 S. m. Abb. 23,2 x 15,5 cm = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 266. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-150304-7.

Rezensent:

Markus Tiwald

Zurzeit tobt ein heftiger Streit unter Judaisten und christlichen Bibelwissenschaftlern gleicherweise, ob, wann und unter welchen Umständen es zu einem »parting of the ways« zwischen Judentum und Christentum gekommen sei. Immer mehr Forscher vertreten die – zwar gut begründete und doch nicht mit hundertprozentiger Genauigkeit zu belegende – These, dass die allzu monolineare Sichtweise späterer jüdischer und christlicher Orthodoxie, die eine strikte und allumfassende Trennung zwischen Juden und Christen gegen Ende des 1. Jh.s n. Chr. vor Augen führt, eine erst nachträgliche Verzeichnung wesentlich komplexerer historischer Entwick­lungslinien war. Der Beweis dieser These steht und fällt freilich mit der Annahme, dass es auch lange nach dem 1. Jh. noch immer »Ju­denchristen« gegeben habe. Dieser Bestandsaufnahme ist Edwin K. Broadheads Untersuchung – entstanden in einem »sabbatical year at Oxford« (VII) – geschuldet.
Schon allein die Gliederung der Arbeit drückt in jeglicher Hinsicht Kenntnis der komplexen Materie und der vielfach zerklüfteten wissenschaftlichen Forschungslandschaft aus: »Part One: Parameters for a Quest for Jewish Christianity« (6–60) bringt nach einem Forschungsüberblick eine eigene Hypothese: »Prior to Nicea (325 CE) one probably should speak not of Christianity in any unified sense, but of Christianities.« (43) Und ebenso: »A similar diversity charac­terizes Judaism before the codification of rabbinic materials« (44) – eine Entwicklungsstufe, die erst mit der Entstehung der Mischna um 200 n. Chr. erreicht war. Auch hier muss man »not of Judaism, but of Judaisms« (44, Kursivsetzung folgt hier und im Folgenden B.) sprechen. Damit wird deutlich, dass es weder im Frühchristentum noch im Frühjudentum exakte Parameter gab, was denn nun ein »Christ« bzw. ein »Jude« war. Daher definiert B. Jewish Christianity nur im weitesten Sinne als »persons and groups in antiquity who sought to fulfill God’s covenant with Israel by a simultaneous ef­fort to follow Jesus and maintain Jewishness.« (61) Seine Spurensuche orientiert sich im Folgenden genau an dieser Definition.
»Part Two: Points of Origin« (62–160) sammelt judenchristliche Traditionen geographisch in Jerusalem, Galiläa, Antiochia, Rom und Alexandria und inhaltlich in Didache, Jakobus- und Judasbrief sowie den beiden Petrusbriefen, ebenso in der Logienquelle und dem Matthäusevangelium. Aber auch im lukanischen Doppelwerk finden sich Spuren judenchristlicher Traditionen.
»Part Three: Patristic Reception of Jewish Christianity« (163–251) setzt die Spurensuche in den Schriften der Kirchenväter (Justin, Irenäus, Tertullian, Hippolyt, Origenes, Pseudo-Tertullian, Eusebius, Hieronymus und Epiphanius) weiter fort. B.s These ist, dass man zwischen Nazaräern und Ebioniten unterscheiden könne (obwohl die Begriffe bei den Kirchenvätern oft ineinanderlaufen): Nazaräer hätten nur am jüdischen Gesetz festgehalten, während Ebioniten darüber hinaus die jungfräuliche Geburt Jesu geleugnet hätten (181 f.192). Während für Epiphanius bereits das reine Festhalten am jüdischen Gesetz als Häresie gebrandmarkt wird (179), unterscheiden Justin (191) und Hieronymus hier gewissenhafter (181 f.). Auch die Frage nach judaisierenden Christen (»Judaizers«, 235–251) wird in ihrer Problematik (leider nur sehr kurz!) angerissen: »Christians who have added to their faith certain Jewish practices«.
»Part Four: Other Evidence for Jewish Christianity« (254–351) un­tersucht die judenchristlichen Apokryphen (Hebräer-, Nazaräer- und Ebionäerevangelium, Petrusapokalypse, Pseudoklementinen), diskutiert die Birkhat ha-Minim und geht sehr kenntnisreich der vieldiskutierten »Archeological Evidence for Jewish Christianity« (301–351) nach. Gerade diese archäologische Auseinandersetzung mit der Thematik ist ausgesprochen verdienstreich, schlägt B. doch mit angemessen kritischer Urteilskraft eine Bresche in den Dschungel der (bisweilen allzu wild wuchernden!) Hypothesen.
»Part Five: The Significance of Jewish Christianity for Contemporary Scholarship« (354–391) fasst die Erträge der Untersuchung pointiert zusammen: »This study has consistently resisted the idea that Judaism and Christianity are definable, monadic entities in the first three centuries of the common era.« (381) Daher sollte man auch nicht von einem »parting of the ways«, sondern besser von einem »forming of the ways« sprechen (389). Eine Trennung zwischen Juden und Christen hat nicht zu allen Orten zur gleichen Zeit und unter den gleichen Umständen stattgefunden (37 1f.389), solch eine Vorstellung ist »a construct that is wholly inadequate to describe the shaping of primitive Christianity and its ongoing re­-lationship with Judaism.« (373) Judenchristen auch nach dem 1. Jh. n. Chr. präzise nachzuweisen, bleibt ein schwieriges Unterfangen, doch »it is now necessary to engage the very real possibility that the whole of primitive Christianity – both in its identity and in its history of development – bears the deep and continuing imprint of Jewish Christianity.« (391)
In der derzeitigen Forschungslandschaft stellt B.s Buch einen ausgesprochen wertvollen Beitrag dar: Selten findet man die einzelnen Forschungspositionen so systematisch und klar, aber auch so vollständig (judenchristliche Schriften, Urteil der Kirchenväter, Archäologie, Hypothesen der älteren wie der moderneren Forschung) aufgelistet. Dabei kann man B. bei der Beurteilung der anstehenden Fragen neben einem umfassenden Wissen auch ein gutes Urteilsvermögen und Ausgewogenheit der Darstellung at­-tes­tieren. Dass B.s Werk keineswegs einen Schlusspunkt, sondern eher eine Art »Doppelpunkt« und Auftakt zum weiteren Fragen darstellt, darf bei der Komplexität der Thematik nicht verwundern. Weitere Diskussion wird sich an den Thesen B.s entzünden, ob man den Terminus »Judenchristen« nicht doch noch näher definieren müsste und ob sich wirklich eine so deutliche Trennlinie zwischen Nazaräern, Ebioniten und judaisierenden Christen ziehen lässt (251). Denn gerade diese Fragen sind von fundamentaler Bedeutung: Standen die von den Kirchenvätern erwähnten Grenzgänger zwischen Judentum und Christentum in einer ungebrochenen Traditionskette hin zu den ersten jüdischen Nachfolgern Jesu, oder waren es losgelöste judaisierende Tendenzen späterer Heidenchris­ten? Auch wenn dem Rezensenten die Thesen B.s sehr sympathisch und plausibel erscheinen, wird hier noch weiterer Diskussionsbedarf angemeldet werden. Aber auch über alle subjektiven Einschätzungen hinaus wird man sagen müssen, dass sich B.s grundsätz­liche Positionierung 1. einer stetig steigenden Zahl von Anhängern in der scientific community erfreuen darf und 2. auch klarmacht, dass die alten Deutemuster eines monolinearen und simplizis­tischen »parting of the ways« endgültig ausgedient haben.