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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

39–41

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Mayer, Günter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Judentum.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1994. 526 S. gr.8o = Die Religionen der Menschheit, 27. Lw. DM 148,­. ISBN 3-17-010269-9.

Rezensent:

Johann Maier

Der schon vor langer Zeit für die bekannte Reihe "Die Religionen der Menschheit" geplante Band über das Judentum stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Es war sehr schwierig, für diesen als Sammelwerk angelegten Band geeignete Mitarbeiter zu finden, und ungelöst blieb lange, wie die einzelnen Beiträge ein einigermaßen geschlossenes Ganzes ergeben könnten. Dies Problem verschärfte sich, denn Ph. Sigal und J. J. Petuchowski verstarben in dieser Phase der Arbeit, nachdem bereits Hermann Greive am 24. 01. 1984 beim Attentat auf das Martin-Buber-Institut für Judaistik erschossen worden war. Der Verlag betraute folglich Günter Mayer damit, das Werk zur Publikation zu führen, das nun mit großer, wenn auch begreiflicher Verspätung vorliegt. Der Hg. hatte sich dabei vor allem um den Beitrag von Ph. Sigal besonders bemüht, darüber hinaus aber auch dafür Sorge getragen, daß die bibliographischen Angaben wenigstens teilweise auf einen neueren Stand gebracht wurden; dies gilt in erster Linie für den bibliographischen Anhang S. 463-500. Den Abschluß des Bandes bilden S. 501 ein Abkürzungsverzeichnis, ein Personenregister (503-510), ein Sachregister (511-520) und ein Stellenregister für die antiken Quellen.

Den riesigen Stoff zu bändigen und in einsichtiger Weise proportional zu den Quellen und zur wirkungsgeschichtlichen Bedeutung zutreffend darzulegen, ist ein schwieriges Unterfangen, insbesondere bei einem Sammelband. In diesem Fall wird vorweg auf den Seiten 17-72 eine "Geschichte des nachbiblischen Judentums in Grundzügen" geboten, für das Leo Trepp und Günter Mayer gemeinsam zeichnen. Für die einzelnen Perioden (Antike, Mittelalter, Neuzeit, Neueste Zeit) bleiben da nur jeweils 4-9 Seiten die ­ jeweils wieder geographisch unterteilt ­ nur eine ganz grobe Skizze ergeben konnten. Leider kann der Leser anhand dieser einigermaßen gleichmäßig umfangreich geschilderten Perioden kaum erahnen, wie der Umfang an neuem Quellenmaterial von Periode zu Periode zugenommen hat, weil auf eine Skizze der Geschichte der religiös relevanten Literatur verzichtet worden ist. Auch die gebotenen Literaturangaben sind unausgewogen, es fehlen viele Überblicksdarstellungen gesamtgeschichtlicher und regionalgeschichtlicher Natur, hingegen tauchen Literaturangaben zu Details auf, die in diesem Rahmen so zu viel Gewicht erhalten. Mit der Neuzeit beginnt zudem eine merkliche und einem politischen Trend entsprechende geographische Zuspitzung auf das "aschkenasische" und letzten Endes auf das deutsche Judentum, während für die Sefardim und die orientalischen Gemeinschaften so gut wie kein angemessener Platz gefunden wurde.

Der zweite Teil (73-123) bietet einen ­ selten anzutreffenden ­ Versuch, eine Geschichte der Halakah zu umreißen, wobei der Hg. G. Mayer den Beitrag von Ph. Sigal offenbar so weitreichend zu adaptieren hatte, daß beide als Vf. aufscheinen. Angesichts der fundamentalen Bedeutung dieser Thematik für das Judentum insgesamt ist dieser Beitrag besonders zu begrüßen, zumal darüber gerade bei christlichen Lesern kaum etwas bekannt ist. Sinnvoll wäre es hier gewesen, bei den Quellen der Halakah S. 80 f. die Schriftliche und Mündliche Torah vorweg anzuführen, und außer den Responsen wären auch noch die Sammlungen von Chiddûshîm (Novellae) und pesaqîm (Dezisionen) sowie die umfangreiche Kommentarliteratur zu erwähnen gewesen, nicht zuletzt aber auch der Minhag, der lokale/ regionale Brauch, dem die halakische Autorität nicht selten hintangestellt worden ist. Im Zusammenhang mit dem 19. Jh. fehlt erstaunlicherweise die Erwähnung des Preises, den das traditionelle Judentum für die Emanzipation zu entrichten hatte: die Preisgabe der traditionellen Rechtsautonomie und damit die Einschränkung der Anwendungsmöglichkeit für jüdisches Recht zugunsten des staatlichen Einheitsrechts, wie überhaupt das Problem konkurrierenden Rechts und des daraus resultierenden Kompromißprinzips dîna’ de-malkûta’ dîna’ ("das staatliche Recht ist gültiges Recht") nicht zur Sprache kommen. Ausgesprochen instruktiv ist hingegen der Überblick über die Halakah im 20. Jh., zumal zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppen differenziert wird.

Im dritten Teil (124-158) behandelt G. Mayer "Die Bibel und ihre Geschichte". Hier wird bis auf Ansätze (wie 127 f.) vom christlichen Begriff der "Bibel" ausgegangen. Gerade deshalb wäre es vielleicht sinnvoll gewesen, die jüdische Einteilung der "Heiligen Schriften" in Torah, Propheten und Schriften in ihrer ganz unterschiedlichen Autorität und Bedeutung klar vorweg darzustellen und die Relation zum größten Teil der verbindlichen Sinaioffenbarung, der "Mündlichen Torah", deutlicher klarzulegen, weil nur so der krasse Unterschied zum christlichen Kanon-Begriff deutlich wird. Außerdem wird auch hier nach der relativ umfangreich behandelten Antike dem deutsch-jüdischen Befund ein unproportionaler Anteil zugemessen; Mittelalter und vor allem Neuzeit treten trotz der riesigen Literatur zur Bibel aus diesen Perioden in den Hintergrund.

Von H. Greive stammt die knappe, aber präzise Beschreibung von Philosophie und Mystik im vierten Teil (159-222). Nur die Neuzeit bleibt dabei (bis auf die lurianische Kabbalah, den Sabbatianismus und den Chasidismus) außerhalb des Horizonts, wodurch die bildungsgeschichtliche Bedeutung des sefardischen und italienischen Judentums verborgen bleibt ­ und dies wieder einmal zugunsten einer zu starken Betonung Moses Mendelssohns.

Was angesichts der Teile I-IV und ihres Umfangs überrascht, ist der Umfang des Teiles V über "Jüdisches Denken im 20. Jahrhundert", der die Seiten 223-406 einnimmt und in einer Folge von instruktiven, lexikonartigen Abschnitten Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Leo Baeck, Mordecai M. Kaplan und R. L. Rubenstein behandelt, danach als Repräsentanten der Orthodoxie Abraham Isaak Kook und Joseph Dov Soloveitchik zusammenfaßt, sodann ­ recht umfangreich ­ Emil Fackenheim (322-358) und Abraham Joshua Heschel (358-392) vorstellt. Hingegen enthält der letzte (X.) Abschnitt (392-406) nur kurze Skizzen über Eliezer Berkovits, Eugene B. Borovitz, Harold M. Schulweis, Arthur A. Cohen, Elie E. Wiesel und Gerhard Scholem, eine Auswahl und Gruppierung, die nicht recht einleuchten will. Die neuesten Tendenzen innerhalb des Staates Israel, in den zionistischen Richtungen und in den großen jüdischen Denominationen kommen nicht mehr zur Sprache. Den Abschluß des Bandes bildet ein Beitrag von Jakob J. Petuchowski mit dem Titel "Die Geschichte des synagogalen Gottesdienstes", der im Wesentlichen schon Publiziertes referiert.

Außer Betracht blieb der umfangreiche Bereich der Erbauungsliteratur, der sich teilweise mit der Bibelauslegung und mit philosophierender bzw. "mystischer" Literatur überschneidet, aber als maßgebliche Quelle für die volkstümlichere Frömmigkeit durchaus Beachtung verdient. Folgerichtig wird auch die religiöse Praxis trotz ihrer frömmigkeits- und sozialgeschichtlichen Bedeutung nicht erörtert. Was dargestellt wird, ist also hauptsächlich die theoretische, normierte Elitereligion, und dabei wieder vorrangig deren aschkenasische Ausprägung. Nimmt man diese Beschränkungen und Akzentsetzungen in Kauf, dann ist dieser Band in seinem Rahmen durchaus als informativ zu empfehlen. Dem Hg. gebührt für seine gewiß nicht leichte Arbeit besondere Anerkennung.