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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

38–40

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Erzberger, Johanna

Titel/Untertitel:

Kain, Abel und Israel. Die Rezeption von Gen 4,1–16 in rabbinischen Midrashim.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 384 S. 24,0 x 16,0 cm = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 192. Kart. EUR 36,80. ISBN 978-3-17-021497-2.

Rezensent:

Michael Tilly

Die Erzählung von Kain und Abel (Gen 4,1–16) wird in den aggadischen Midraschim mittels ihrer intertextuellen Verknüpfung durch Zitation und Allusion mit anderen narrativen Traditionen und biblischen Textzusammenhängen in unterschiedliche Darstellungszusammenhänge eingeordnet und hierdurch interpretiert. In ihrer im Sommersemester 2009 der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg vorgelegten Dissertationsschrift bietet Johanna Erzberger sowohl einen breiten Überblick über die zahlreichen rabbinischen Deutungen und Neukontextualisierungen der Erzählung als auch eine umfassende synchrone Analyse dieser variierenden Auslegungen.
Die ausführliche Einleitung im ersten Kapitel (12–42) enthält Ausführungen zur Forschungsgeschichte und zum Konzept der Arbeit. E. geht in ihrer Untersuchung zum einen davon aus, dass zwischen der historischen Bedingtheit der Midraschim, dem Kontext, in dem sie den Bibeltext wahrnehmen, und dem Kontext, in den sie dessen Auslegung innerhalb der Midraschliteratur stellen, ein intendierter enger Zusammenhang bestehe (27). Sie nimmt zum anderen an, dass sich in den rabbinischen Überlieferungen ein begrenzter Kanon intertextueller Verknüpfungen und bestimmter Strukturelemente von Hypertexten widerspiegele, über die Intertexte miteinander verbunden sind (40).
Die in den Traditionsstücken zu erkennende Neukontextualisierung verschiedener Bibeltexte wird von E. mittels des literaturtheoretischen Konzepts der Intertextualität näherhin beschrieben. Dabei nehmen die von ihr untersuchten Midraschim vorhandenes Zeichenmaterial auf und überführen es in eine neue Ordnung. An der Wechselwirkung dieses Zeichenmaterials werde ersichtlich, wie die Rabbinen ihrerseits neue Sinnfindungsprozesse in Gang setzten.
Das zweite Kapitel der Arbeit (43–57) enthält eine gründliche Darstellung der neueren historisch-kritischen Auslegungsgeschichte der in sich geschlossenen Texteinheit Gen 4,1–16 als Basis und als Vergleichshorizont ihrer rabbinischen Rezeption. Im umfangreichen dritten Kapitel (59–122) geht es zunächst um die Deutung der biblischen Erzählung in rabbinischen Genesiskommentaren. Die einzelnen Texteinheiten werden dabei jeweils hinsichtlich ihres Kontextes, ihrer Struktur, ihres Motiv- und Traditionsrepertoires untersucht. Während sich in der durchgehenden Kommentierung des Bibeltextes im Midrasch Genesis Rabba (GenR) 22 im Geschick Kains als exemplarischen Individuums die Barmherzigkeit und Güte Gottes zeige und das Opfer seines Bruders Abel die Erzählung im Zusammenhang der erinnerten Ge­schichte Israels verorte (94), stelle die Kainsgestalt in GenR 19 einen Vergleichshorizont für die Gottesbeziehung Adams dar (100). In GenR 21 repräsentierten Kain und Abel keine Unterscheidung zwischen Israel und seiner paganen Mitwelt, sondern zwischen Israel und den Frevlern aus Israel (105). In GenR 34 repräsentiere das Opfer Abels die Vorgeschichte Israels bzw. die Zeit vor der Gabe der Tora (112).
Das vierte Kapitel (123–132) thematisiert die in der als Midrasch Tanchuma (Tan) tradierten Sammlung erhaltene Gattung von rabbinischen Lesepredigten. Hierin begegne eine durch Zitate strukturierte Paraphrase der biblischen Erzählung (126), die vor allem die Gottesbeziehung Kains akzentuiere. Traditionsgeschichtlich verwandte aggadische Midraschim behandeln das fünfte (133–159) und das sechste Kapitel (161–198). Als Themenschwerpunkte der untersuchten Traditionsstücke und kleineren Sinneinheiten bezeichnet E. die hohe Bedeutung der individuellen Umkehr des reuigen Sünders Kain und die Gottesbeziehung des exemplarischen Gerechten (159). Abel hingegen werde in seiner Rolle als exemplarischer Verfolgter zum Sympathieträger und als Identifikationsfigur für ganz Israel wahrgenommen (168). Im siebten Kapitel (199–221) geht es um Traditionsstücke, die Gen 4,1–16 im Zusammenhang der Kategorien Zeit und Raum deuten, im achten Kapitel (223–250) um die Verknüpfung von Normdiskussionen, »erinnerter Geschichte« und Kult. Weitere – inhaltlich eigenständige – Auslegungstraditionen thematisiert das neunte Kapitel (251–269).
Die Endauswertung der Einzelbefunde im zehnten Kapitel (271–301) widmet sich einer (Lesarten und Inhalte betreffenden) Typologie der Auslegung von Gen 4,1–16 in der Midraschliteratur. E. hält fest, dass bestimmte Verse der Erzählung besonders häufig eingespielt werden und dass auch die intertextuellen Verknüpfungen mit anderen Bibeltexten mittels Analogiebildung, Überbietung oder kontrastierender Gegenüberstellung (insbesondere mit Ex 19–24; 32; 40; Lev 9; Num 7; Dtn 9) wiederkehrenden Mustern folgen (271). Dabei diene der Bibeltext »der Konstituierung eines übergeordneten zeitlichen und räumlichen Bezugssystems, in dem sich die Geschichte des Gottes Israels mit Israel und der Welt verortet« (287). Die Pragmatik dieses Bezugssystems bestehe ihrerseits in der Motivierung des gedachten Lesers der aggadischen Texte, sein eigenes Denken und Handeln – individuell und kollektiv – am Imitabile der Erzählung von Kain und Abel zu orientieren. Das kurze elfte Kapitel (303 f.) enthält zusammenfassende Thesen, das abschließende zwölfte Kapitel (305 f.) weitere Thesen zum Verhältnis von rabbinischer Exegese und moderner Schriftauslegung. Zwei An­hänge enthalten die der Untersuchung zugrunde liegenden Texte (308–364). Beigegeben sind ein Glossar (365–368), ein Literaturverzeichnis (369–378) und ein Stellenregister (379–384).
Die gründlichen und philologisch exakten Analysen der zahlreichen Traditionsstücke führen E. zu der durchaus plausiblen und nachvollziehbaren Beobachtung, dass die aggadischen Midraschim den Bibeltext als geprägtes Textmaterial einerseits nicht unverändert lassen und ihn andererseits nicht fragmentieren und punktuell wahrnehmen, sondern im Auslegungsprozess immer wieder den Kontext der ausgelegten Bibeltexte einspielen und somit die Gesamtheit des rabbinischen Kanons als einen linearen Text betrachten. Als sinnstiftend hätten dabei nicht die einzelnen Sinn­einheiten und Einzelauslegungen zu gelten, sondern eben deren Kontext. Diese zutreffende Beobachtung lässt sich meines Erachtens dahingehend extrapolieren, dass die besagte Sinnstiftung in den von E. untersuchten Midraschim eben nicht nur durch den individuellen Text selbst und durch dessen Prätexte, sondern auch durch Textkollektiva – d. h. von den hinter Text und Prätexten stehenden und sie strukturierenden textbildenden Systemen – konstituiert wird. Der jeweiligen Auswahl, der Neukontextualisierung und der formalen und inhaltlichen Bearbeitung dieser Prätexte (insbesondere bei der Gestaltung des dramatischen Dreiecks zwischen Kain, Abel und Gott) entspricht das Konzept der autorisierenden Integration der selegierten Traditionen. Als maßgeblich erscheint mir vor allem das Leitinteresse der an der Überlieferung und Redaktion der aggadischen Midraschim beteiligten Rabbinen.
Anhand der aggadischen Auslegungen von Gen 4,1–16 verdeutlicht E. die unterschiedlichen literarischen Strategien der jüdischen Gelehrten zur begründenden Verankerung halachischer Positionen und paränetischer Inhalte in der Schrift. Die kommunikative Wirkabsicht dieser Auslegungen besteht ihres Erachtens darin, dass dem impliziten Leser ein Verhaltens- bzw. Rollenangebot nahegelegt wird. Ob die Erzählung von Kain und Abel in den untersuchten Midraschim die beiden Handlungsträger als Widerpart oder als Identifikationsfiguren darstellt und ob sie die beiden Söhne Evas innerhalb oder außerhalb Israels verortet, ist dabei tatsächlich nicht entscheidend. Von wesentlicher Bedeutung ist vielmehr ihre sinnstiftende Wahrnehmung durch den Leser der rabbinischen Texte. Die lesenswerte Arbeit stellt einen materialreichen, gründlichen und methodisch innovativen Beitrag zur Midraschforschung dar.