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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

34–36

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dietrich, Jan

Titel/Untertitel:

Kollektive Schuld und Haftung. Religions- und rechtsgeschichtliche Studien zum Sündenkuhritus des Deuteronomiums und zu verwandten Texten.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XIX, 462 S. gr.8° = Orientalische Religionen in der Antike, 4. Lw. 99,00. ISBN 978-3-16-150353-5.

Rezensent:

Eckart Otto

Die hier anzuzeigende kultur- und rechtshistorische Studie zu Dtn 21,1–9 von Jan Dietrich wurde 2009 als Dissertation, die A. Berlejung betreut hatte, von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig angenommen. Der Vf. will der Frage nachgehen, wie die ostmediterranen Kulturen der Antike mit dem Problem des Totschlags von unbekannter Hand umgingen. Im Dreieck von Täter, Opfer und Rechtsgemeinschaft setze die Moderne einseitig auf die Verfolgung des Täters, was zu einem Verzicht auf eine Rechtsreaktion führt, wenn der Täter unentdeckt bleibt. In Dtn 21,1–9 tritt in die sem Falle dagegen die Rechtsgemeinschaft in Aktion und übernimmt den Fall als eine kollektiv zu tragende Schuld, die einer rituellen Reaktion bedarf, wobei es sich in Dtn 21,1–9 nicht um ein nebensächliches Ritual mit archaischen Zügen handle, sondern es vielmehr um die Frage gehe, wie im Deuteronomium mit der Schuldproblematik einschließlich der Problematik der Kollektivschuld umgegangen werde.
Nun ist die Wahl von Dtn 21,1–9 als Textzeuge für das Phänomen der Kollektivschuld auf den ersten Blick erstaunlich, bezeugen doch die Ältesten der Stadt, die der Leiche am nächsten liegt, nach Dtn 21,7 ihre Unschuld. Doch, so der Vf., werde ein individuelles Verschulden abgewiesen, so werde Kollektivschuld als Kategorie anerkannt und fordere eine entsprechende rituelle Reaktion. Der Vf. wendet sich damit gegen Thesen, die Ahndung von Kollektivschuld sei im Gegensatz zum Strafrecht, das individuell sanktioniere, nicht ein Thema des Rechts, sondern der Religion, so K. Schmid in einem beachtenswerten Aufsatz zur Kollektivschuld (ZAR 5, 1999, 193–222). Nun gilt Dtn 21,1–9 der bisherigen Deuteronomiumsforschung als ein Fremdkörper im Gesetz des Deuteronomiums. Den einen gilt das Gesetz von der »Sündenkuh« als ein ma­gisch aufgeladener Ritualtext aus polytheistisch-archaischer Zeit (A. Bertholet), anderen aber als ein Zeugnis einer Säkularisierungstendenz im Deuteronomium (M. Weinfeld), wobei die Forschung auch schwankt, ob Dtn 21,1–9 als Rechtstext zu verstehen sei oder als ein Zeugnis kultisch-außerrechtlicher Ritualpraxis, je nachdem welche Einzelmotive pars pro toto als Deutungsschlüssel ge­nommen werden. Der Vf. will in dieser disparaten Situation der Forschung jedes einzelne Motiv in Dtn 21,1–9 im Horizont seiner biblischen und vor allem altorientalischen Parallelen analysieren, um zu einem Gesamtverständnis der Ge­schichte des Textes zu ge­langen, der im Deuteronomium als Rechts­text verstanden wurde.
In der rechtshistorischen Analyse von altorientalischen Parallelen des Keilschriftrechts wendet sich der Vf. §§ 23–24 des Kodex Hammurapi und § 6 der Hethitischen Gesetze in der späten Fassung der Fortschreibung in KBo 6.4 § IV zu, der Verpflichtung einer politischen Gemeinschaft zur kollektiven Ersatzleistung im Falle des unaufgeklärten Raub(mordes), die ebenso wie Urkunden und internationale Verträge des syrisch-hethitischen Raumes des 2. Jt.s eine vom Herrscher/Palast verordnete Kollektivhaftung oder -bußleistung kennen, während sich das Prinzip kollektiver Haftung im 1. Jt. von der neuassyrischen bis zur persischen Zeit nicht nachweisen lasse. Die Kollektivhaftung im unaufgeklärten Tötungsfall sei prinzipiell durch Herrscherinteressen erzwungen worden, um den Palast von Ersatzleistungspflichten zu entlasten. Der Unterschied zwischen den keilschriftrechtlichen Texten und Dtn 21,1–9 bestehe darin, dass im Deuteronomium von einem derartigen Herrscher­interesse nichts zu erkennen sei, was den Vf. veranlasst, in CH §§ 23–24 und Dtn 21,1–9 eine funktionale Parallelentwicklung zu sehen, die sich auf die Protasis in Dtn 21,1 beschränkt, während die Apodosis der Ritualsequenz eigene Wege geht, die im Keilschriftrecht keine Parallelen hat und den Lösungsweg des Falles außerhalb des Rechts sucht. Es bleibt dabei, es handelt sich in der literarischen Grundschicht von Dtn 21,1–8b* um eine »außerrechtliche Lösung des unaufgeklärten Tötungsfalls«, so der Vf. mit dem Rezensenten (BZAW 284, 266). Das lässt den Vf. den Parallelen der Ritualsequenz nachgehen. So sieht er in der Protasis in Dtn 21,1 ein Omen in kasuis­tischer Formulierung eines Ritualtextes, der auf das unheilvolle Omen in Gestalt eines von unbekannter Hand Ermordeten mit einem Ritual reagiert. Mesopotamische Omina, so die der Serie summa alu, und die Namburbis bieten vergleichbare Parallelen von Omina unheilvollen Blutes und seiner Wirkung auf Stadt und Land. Nicht um kollektive Haftung wie im Recht gehe es dabei, sondern um kollektive Schuld aufgrund der Übertretung göttlicher Ordnung, so dass es konsequenterweise in der folgenden Apodosis in Dtn 21,2–8* im Ritual um ein Geschehen zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre gehe. Dabei führt der Vf. den Nachweis, dass die Interpretation der Ritualsequenz der Apodosis als Eliminierungsritus, was gegenwärtig in der alttestamentlichen Wissenschaft Hochkonjunktur auch für das Verständnis von Lev 16 hat, nicht ausreicht, um die Abfolge der verschiedenen Handlungen der Ritualsequenz zu erklären. Nicht nur soll Unheil entfernt werden, sondern die Bewohner der Ortschaft in Gestalt der Ältesten distanzieren sich von dem Verbrechen und entlasten sich durch ein Sühneritual. Die Ritualakte der Hinabführung einer Jungkuh in ein »Sturzbachtal«, Handwaschung, Un­schuldsdeklaration und stellvertretende »Schandstrafe« der Kuh durch Brechen ihres Genicks haben Sühnecharakter angesichts objektiver Schuld der Ortschaft, deren Bewohner gleichzeitig rechtlich individuell un­schuldig an dem Mord sind. Durch ein Reinigungs- und Sühneritual, das rechtssymbolische Akte integriert hat, werde eine für die Ortschaft ge­fährliche Situation beherrschbar gemacht.
Den Ursprung des Rituals vermutet der Vf. im spätbronzezeitlichen Norden Palästinas. Doch sei der Text des Rituals, der sich formal kasuistisch formuliert auch als Gesetz lesen ließ, als Rechtstext in das Gesetz des Deuteronomiums eingestellt worden, das erst nachexilisch zusammengestellt worden sei, da die Forderung der Kultzentralisation erst nachexilisch erhoben worden sei. Damit aber postuliert der Vf. für Entstehung und literarischen Ort von Dtn 21,1–9 Extreme der Früh- und Spätdatierung. Zwar enthält Dtn 21,1–9 durchaus Einzelelemente, so das Gebet in Dtn 21,8 und die Einführung der Priester in Dtn 21,5, die auf die umfangreiche nachexilische Fortschreibung des Buches Deuteronomiums zurückgehen. Doch ist die vom Vf. zugrunde gelegte Textbasis zu schmal, um das Gesetz des Deuteronomiums insgesamt und pauschal nachexilisch zu datieren. So liegen Stärke und bleibender Wert der Studie für die Deuteronomiumsforschung in der Aufklärung der Sühnefunktion der Ritualsequenz eines aus der Omentradition entstandenen kasuistischen Textes. Die Einbeziehung des altorientalischen Vergleichsmaterials zu diesem Thema muss als vorbildlich bezeichnet werden. Weniger überzeugend ist die Analyse der keilschriftrechtlichen Parallelen zur Kollektivhaftung, wenn der Vf. die Motivik der Kollektivhaftung recht einlinig auf Palastinteressen zurückführt. In CH §§ 23–24 ist vom Palast und seinen Interessen nicht die Rede. Diese Rechtssätze sind vielmehr rechtsfalldifferenzierende gelehrte Extrapolationen aus dem Fall des aufgeklärten Raubmordes in CH § 22, der mit Palastinteressen nichts zu tun hat, wohl aber mit der Fortschreibung von Rechtssätzen im Rahmen des Schulcurriculums im Tafelhaus. In der Analyse des Rechts neigt der Vf. auch in Bezug auf das Deuteronomium dazu, die Funktionen von Rechtssätzen auf die der Konfliktregelung im Parteienstreit, die heute dem Zivilrecht zugewiesen wird, zu beschränken. Damit aber verbaut er sich einen Zugang zu strafrechtlichen Funktionen des Rechts, die ihm im Deuteronomium als rechtlich uneigentlich gelten und ihn zur Spätdatierung des deuteronomischen Gesetzes veranlassen. So überzeugt die erst nachexilische Transformation eines Sühnerituals in Dtn 21,1–9 in einen Rechtstext nicht. Wird die Verrechtlichung des das Verhältnis zur göttlichen Sphäre regelnden Rituals erst der nachexilischen Zeit zugesprochen, so hat der Vf. die These, die Bearbeitung von Kollektivschuld sei eher der Religion als dem Recht zuzuweisen, so K. Schmid, eher bestätigt als zurückgewiesen, was aber in der Studie nicht mehr ausgeglichen wurde.
Trotz dieser Einsprüche hat der Vf. eine der fundiertesten Studien der letzten Jahre zum altorientalischen Hintergrund eines deuteronomischen Gesetzes vorgelegt, die für die Deuteronomiumsforschung bleibende Bedeutung haben wird.