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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

30–31

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Novick, Tzvi

Titel/Untertitel:

What is Good, and What God Demands. Normative Structures in Tannaitic Literature.

Verlag:

Leiden/Boston: Brill 2010. XII, 248 S. 24 x 16 cm = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 144. Lw. EUR 103,00. ISBN 978-90-04-18758-0.

Rezensent:

Friedrich Avemarie

Supererogation, ein dem Protestantismus vor allem aus der reformatorischen Polemik gegen den Ablasshandel geläufiger Begriff, kennzeichnet auf ethischem Gebiet ein Verhalten, das mehr zu leis­ten beansprucht als das bloße Erfüllen einer Pflicht und sich daher auch nicht deontologisch, sondern nur im teleologischen Rahmen einer Tugendlehre begründen lässt. Von dieser Unterscheidung zwischen Pflicht und Mehrleistung ausgehend, sucht die vorliegende Arbeit in der – überwiegend deontologisch ausgerichteten – Halacha der tannaitischen Literatur (Mischna, Tosefta, halachische Midraschim) nach Anhaltspunkten für eine nicht-deontologische Normativität und damit nach Ansätzen zu einer rabbinischen Tugendethik.
Der Ertrag der Untersuchung, die auf eine Dissertation bei Christine Hayes in Yale zurückgeht, ist überaus reichhaltig: Die Kon­trastbegriffe הבוח (»Pflicht«) und תושר (»Freigabe, Erlaubnis«) unterscheiden zwischen Verbindlichkeit und Nicht-Verbindlichkeit, wobei letzteres aber auch Präferenz und »schwache Verbindlichkeit« einschließen kann (34). Der Ausdruck הוצמ (»Gebot«) kann sich je nach Verwendungskontext auf die zu einem bestimmten Tun verpflichtete Person oder aber auf das durch ihr Tun bewirkte Geschehen beziehen und hat im einen Fall deontologischen, im anderen teleologischen Sinn (44). Dass hier eine Unterscheidung zwischen Deontologie und Teleologie tatsächlich latent wirksam ist, kann man daran sehen, dass in manchen Fällen das Resultat eines הוצמ-widrigen Vorgehens dennoch als halachisch »tauglich« (רשכ) anerkannt wird (53 f.). Aus teleologischer Perspektive be­trachtet, markiert רשכ dann das Notwendige, הוצמ dagegen nur die Präferenz (56).
Einer der vielen Unterschiede, die N. zwischen den hermeneutischen Ansätzen der Schule R. Akivas und R. Jischmaels herausarbeitet, liegt darin, dass jene die Schrift als den Bereich der הוצמ und die Welt als den der תושר streng voneinander trennt, während diese von Kontinuität ausgeht, so dass sie תושר auch in der Schrift zu entdecken vermag (72 f.). Dass in Traditionen der Jischmael-Schule bereits die Vorstellung vom »bösen Trieb« (ערה רצי) begegnet, deutet darauf hin, dass Gehorsam hier als Sache des Willens aufgefasst wird (77). Entsprechend hat die Jischmael-Schule auch keine Vorbehalte gegen die Bekräftigung des Gehorsamswillens durch Schwüre, während die Akiva-Schule solche Schwüre als logisch widersinnig ablehnt (78-86). – Während Gesetze ihren Übertretern gewöhnlich Strafe androhen, wandelt die rabbinische Tradition dieses Prinzip ab, indem sie der Strafe einen Lohn für die Erfüllung des Gebots gegenüberstellt (89); die vorstellbare Schlussfolgerung, der Lohn mache den Gehorsam zu einer Sache des Beliebens, weist sie jedoch scharf zurück (84).
Verschiedene Ausdrücke bezeichnen gesteigerte Intensität im Bemühen um Pflichterfüllung, wobei diese Intensität aber gerade nicht zur Pflicht erhoben wird (127 f.): ששח, »Skrupel hegen« (112ff.); קדקד, »es genau nehmen« (121 ff.); אטח תארי, »Sündenfurcht« (wobei die Sünde als durchaus real verstanden wird, 126 ff.); עונצ, »umsichtig«, »behutsam« (148 ff.); זירז, »eilends«, »beflissen« (164 ff.) und anderes. Außerhalb der Deontologie liegt schließlich auch die Bekräftigung ethischer Forderungen durch biblische Exempel, sei es mittels des Imitatio-Gedankens (187 f.), sei es mit Hilfe von a-fortiori-Argumenten (201 ff.).
Von der Fülle der Detailbeobachtungen, die N. in den acht Kapiteln seines Buches ausbreitet, vermag diese Rezension bei weitem keinen adäquaten Eindruck zu vermitteln, zumal es oft gerade die Details sind, in denen sein analytischer Scharfsinn zum Brillieren kommt. Den Anspruch, seinen Gegenstand erschöpfend behandelt zu haben, erhebt N. wohl nicht, vermisst habe ich aber lediglich Ausführungen über die םידסח תולימג, die Mildtätigkeit, die nach Mischna Pea 1,1 kein festes Maß hat, über die Unterscheidung von Gebot und Unerlässlichkeit (בוכיע) in der Erörterung von Tempelriten und über das Diktum von der Mehrung der Gebote zum Zweck gesteigerter תוכז in Mischna Makkot 3,16.
An der Methodik fällt eine gewisse Unbekümmertheit gegen­-über den Standards der 80er und 90er Jahre ins Auge. So werden Zuschreibungen an individuelle Rabbinen gewöhnlich ohne Be­denken als zuverlässig betrachtet, was die Zuordnung der betreffenden Lehraussagen zu den Schulen R. Akivas und R. Jischmaels natürlich erleichtert. Den mit dem Namen R. Tarfons verbundenen Überlieferungen wird sogar zugetraut, insgesamt ein konsistentes, wenn auch nicht unbedingt historisch akkurates Charak­terbild zu vermitteln (208, vgl. 182). Gegenstand der Analyse ist, formgeschichtlich gesprochen, jeweils die »kleine Einheit«, die einzelne, in sich geschlossene Lehrkontroverse oder Schriftauslegung; der weitere Kontext interessiert nur, insofern er eine Einordnung in die genannten Schultraditionen ermöglicht. Die in den vergangenen Jahren erzielten Fortschritte in der Erschließung des handschriftlichen Materials erlauben subtile Vergleiche (z. B. 46 f.); mitunter wird aber, wo ein Text aus einem ansonsten stimmigen Gesamtbild ausschert, auch zu literarkritischen Lösungen gegriffen (z. B. 23, 32). Dies alles sei nicht wertend, nur feststellend gesagt. Wie es scheint, hat sich in der antiken Rabbinistik ein Methodenkonsens noch nicht herausgebildet.
An der herausragenden Qualität der vorliegenden Arbeit kann jedenfalls kein Zweifel bestehen. Zu wünschen bleibt ihr eine zahlreiche, wissbegierige Leserschaft.