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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

27–28

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Brocke, Michael, u. Jobst Paul[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gotteserkenntnis und Menschenbild. Schriften zur jüdischen Sozialethik 1.

Verlag:

Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 2011. 229 S. 24,0 x 17,0 cm = Deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts: Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft. Anthologie, 1. Geb. EUR 34,90. ISBN 978-3-412-20452-5.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Ziel der Herausgeber ist es, wichtige deutsch-jüdische Autoren des 19. Jh.s zu Wort kommen zu lassen, »in der Hoffnung auf eine heutige kulturelle und gesellschaftliche Rezeption, die ihnen in Deutschland so lange verwehrt war«. An die christliche Mehrheitsgesellschaft gerichtet versuchten jüdische Autoren im 19. Jh., ethische und sozialethische Grundlagen des Judentums als mögliches Fundament einer demokratischen Gesellschaft in Deutschland und Europa darzustellen und anzubieten. In der Auseinandersetzung mit der ablehnenden »christlichen Gesellschaft« konnte man dabei sogar auf die Übernahme jüdischer Ethik im frühen Chris­tentum verweisen und für ein »Zusammenrücken von Judentum und Christentum« plädieren. In diesem Sinne bietet der Band in sechs Kapiteln 29 Texte jüdischer Autoren, deren Entstehungszeit zwischen 1842 ( Levi Herzfeld und ein anonymer Autor) und 1900 (Hermann Cohen) liegt. Alle Texte sind Auszüge aus umfangreicheren Werken oder wie bei Samuel Holdheim (90) Predigtsammlungen entnommen. So sind auch die Texte von ganz unterschiedlicher Diktion: einmal philosophischer Natur wie bei Hermann Cohen oder L. R. Landau, geprägt von exegetischen Ausführungen wie bei David Einhorn oder Hirsch B. Fassel, andere sind appella­rischer Natur wie der erste der beiden Texte von Samuel Holdheim, eine Predigt.
Das erste Kapitel »Die Erkenntnis Gottes« enthält acht Texte, deren Ziel es ist, die Verbindung zwischen der sittlichen Anschauung des Judentums und seinem Gottesbegriff aufzuzeigen. Dabei eröffnet Meyer Kayserling das Kapitel mit seinen Ausführungen über die »Gottesidee und die Tugend des Erkennens«. Zitate aus der Tora sowie aus Mischnah und Talmud (in den Fußnoten jeweils in hebräischer Version) und ihre Auslegung erläutern den ethischen Grundcharakter des Judentums, in dem Gotteserkenntnis und ethisches Handeln zusammengehören. Der Autor nennt sodann Tora, Mischnah und Gemara sowie Maimonides als seine Quellen, auf die Liebe zur geistigen Tätigkeit im Judentum weist Meyer Kayserling ausdrücklich hin.
Hervorzuheben in diesem ersten Kapitel ist vor allem der Auszug aus Hermann Cohens »Liebe und Gerechtigkeit in den Begriffen Gott und Mensch«, der auch einen für die persönliche Entwick­lung des Neukantianers wichtigen Text verfügbar macht. Cohen setzt sich darin mit der »Lehre von den Attributen Gottes« auseinander und konfrontiert sie mit den beschränkten Mitteln menschlicher Erkenntnis. Im Anschluss an Kant und Maimonides plädiert er in dieser Schaffensphase dafür, die Gottesidee aus der allgemeinen Metaphysik herauszunehmen und zu einem ausschließlichen Problem der Ethik zu machen: »Die Weisheit Gottes ist der Liebe gewichen. Die theoretische Erkenntnis ist gegen die Ethik zurück­getreten.« (45) Die Auseinandersetzung mit Pantheismus, Na­tur, Na­turwissenschaft und Schöpfung bieten die Texte von Moritz Le­vin, Moritz Ehrenteil, Adolf Kurrein und Alexander Rosenberg. Insbesondere der Letztgenannte zeigt in der Trennung theologischer und naturwissenschaftlicher Aussagen einen für seine Zeit interessanten und modernen hermeneutischen Ansatz.
Im zweiten Kapitel (»Wozu bedarf es einer religiösen Form der Erkenntnis«) ist besonders auf den zweiten Text von Alexander Rosenberg (Religion und Moralität) hinzuweisen und die interessante Analogie zwischen Seele und Körper einerseits, den »großen erziehenden und veredelnden Gedanken, den ewigen göttlichen Genius« und die äußerlichen Zeremonien als Charakteristikum der Religion andererseits. Rosenberg bezeichnet das Judentum als »diejenige Konfession, deren innigstes Wesen, deren bestimmendes und gestaltendes Element die Ethik ist«, während die Seele der griechischen Religion in der Antike die Ästhetik sei. Das mehrfache Zitieren von Lev 19,2 (»Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, Euer Gott«) in verschiedenen Texten belegt wie auch an­dere öfter vorkommende Bibelzitate diese Grundlinie. So sei eigentlich nur das Judentum in der Lage, den Partikularismus zu überwinden und sich »zu einer Universalreligion der Gesellschaft zu erheben«.
Die Grundgedanken, die aus der jüdischen Tradition entwickelt werden, werden weiter entfaltet unter den thematischen Aspekten »Der Geist Gottes und die Erkenntnis des Guten« (Kapitel III), »Gott, das Leiden und das Böse« (Kapitel IV), »Die menschliche Willensfreiheit« (Kapitel V) und »Der Leib, die Seele und die Unsterblichkeit« (Kapitel VI). Dabei bieten die Textbeispiele gute Belege für die genuin jüdische Auseinandersetzung mit Problemen wie Theodizee, Funktion des Leids, der Willensfreiheit, für die Abgrenzung gegen Materialismus und Naturalismus. Autoren wie David Einhorn oder Samuel Holdheim bieten in ihren Texten zudem auch gute Beispiele für die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition, z. B. mit dem Talmud.
Eine einleitende Zusammenfassung der Texte, eine Kurzvorstellung der Autoren, Zitatenindex und Register erleichtern die Arbeit mit der verdienstvollen Edition.