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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

25–27

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Neu, Rainer

Titel/Untertitel:

Das Mediale. Die Suche nach der Einheit der Religionen in der Religionswissenschaft.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 314 m. Abb. 23,2 x 15,5 cm. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-17-021374-6.

Rezensent:

Dorothea Lüddeckens

Rainer Neu, ausgebildeter Theologe und Soziologe, Privatdozent und langjähriger Hochschullehrer für Evangelische Theologie auf den Philippinen, ist seit vielen Jahren in Kontexten der christlichen Mission und des interreligiösen Dialogs aktiv. Derzeit ist er Lehrbeauftragter für Historische Theologie an der Universität Duisburg-Essen. Seine Lehrtätigkeit und seine Veröffentlichungen stehen im Rahmen einer innerhalb der Theologie beheimateten Missions- bzw. Religionswissenschaft, welche sich um das gegenseitige interreligiöse Verständnis bis hin zu einer Theologie der Religionen bemüht. – N.s jüngste Monographie führt die Religionswissenschaft im Titel und will ihr eine neue Grundlage bereiten, indem er ihr die Einheitlichkeit und das Spezifische ihres Untersuchungsgegenstands vorstellen möchte.
In sechs Kapiteln wird quer durch die Kulturen und religiösen Traditionen und quer durch die unterschiedlichsten Quellen und Medien eine von N. überall aufgefundene »grundlegende Einheit der Religionen« (10) vorgestellt: das Mediale. Die Offenbarung des Göttlichen im menschlich Zugänglichen, im »Medialen« bzw. die Erkenntnis von dieser Offenbarung findet N. in Märchen, europäischen und asiatischen Mythen, Texten griechischer Philosophie, im Mahayana Buddhismus, dem I Ging, im Schamanismus und in der Architektur verschiedenster Religionen sowie bei den Autoren der Frühromantik, der Religionsphänomenologie und -soziologie. N., der äußerst belesen ist, besticht mit einer großen Bandbreite empirischer Fallbeispiele und einbezogener Sekundärliteratur.
N. beginnt mit dem Aufweisen eines seiner Ansicht nach kulturübergreifenden Entwicklungsprozesses (18): Die Bewegung von einer undifferenzierten Einheit in eine Differenzierung bzw. Polarität, hin zu einer Integration der beiden Polaritäten, einem ganzheitlichen Bewusstsein oder einer diversivizierten Einheit. Diese Struktur zeichnet N. u. a. anhand Rapunzels nach, deren Weg vom »unhinterfragten Einssein« im Turm über die Entdeckung der Vielfalt der Welt hin zu einer »diversifizierten Einheit …, die die unterschiedlichen Aspekte der Lebenswirklichkeit integriert hat«, führt (11). Auch für Parzival und Buddah Gautama, sowie an Kosmogonien verschiedenster Traditionen und Vertretern der abendländischen Philosophie zeigt N., dass durch »Einheit, Polarität und Integration … sich der Mensch zur vollendeten Reife und das Universum zur ausgewogenen göttlichen Ordnung« entfaltet (31).
Dieses Entwicklungsmodell führt N. zu Jung und Eliade, seine Referenzen für die Entwicklung des Begriffs des »Medialen«, welcher »ausdrücklich in Raum und Zeit verortet ist« und keine ahis­torische Kategorie sein soll (41). Gemeint ist jene »Sphäre, in der sich das Profane und das Heilige begegnen und partiell durchdringen, jener Bereich, in dem sich religiöse Erfahrungen ereignen« (41). Dies zeigt N. für Tempel und Kirchen u. a. anhand ihrer Architektur auf und erläutert für den Schamanismus, wie der Schamane als Mittler zwischen den Welten fungiert.
In der Frühromantik, so N., wird dieser »Mittler« entdeckt. Wa­ckenroder, Schlegel, Novalis u. a. werden mit ihrem Erleben des Heiligen und ihrer Reflexion darüber vorgestellt, und auch hier sieht N. bestätigt, dass sich das »Heilige im Endlichen manifestiert« (140). Zugleich zeigt er, wie im Folgenden für die Religionsphänomenologen, worin im Blick auf eine Theorie des Medialen die blinden Flecken der Autoren liegen.
Die Ausführungen zu den Soziologen Durkheim, Weber und Luhmann sind ausgesprochen originell. Die Autoren, die meist unter dem Gesichtspunkt ihrer Verschiedenheit gelesen werden, werden von N. unter dem gemeinsamen Nenner des Medialen rezipiert. Zugleich möchte N. damit zeigen, dass das Mediale auch als religionssoziologischer Begriff aufgefasst werden kann. Beides wird dadurch einfacher, dass N. seine Referenzen außerhalb ihres Re­zeptionszusammenhangs liest. Typisch für alle drei Autoren ist die Betonung der Differenz. N. hingegen liest sie im Hinblick auf Einheit und entdifferenziert aufs Mediale hin. Ganz im Sinne seiner essentialistischen Konzeption versteht N. das, was sonst bei Durkheim als Form, als soziologische Grundbedingung gesehen wird, als anthropologische. Weber, der bislang nicht als Referent eines außerhalb des Sozialen existenten »Heiligen« gelesen werden konnte, wird von N., u. a. mit der Argumentation über dessen Biographie, als solcher ausgewiesen. Bei Luhmann weist N. auf dessen konstruktivistische Perspektive hin und thematisiert, dass Luhmann sich nicht für »die Transzendenz als solche« interessiere (261). Dennoch erkennt er auch bei diesem Autor das Mediale wieder, und zwar im »Kreuzen der Grenze«, wodurch »Aspekte der in der Transzendenz liegenden unvertrauten Welt immanent beobachtbar und erkennbar [werden]« (Zitat Luhmann, 268). Ob diese Kategorie, mit der N. die universale Begegnung des Heiligen mit dem Profanen zu fassen sucht, wirklich mit der soziologischen Charakterisierung einer als kontingent erkannten kommunikativen Erzeugung und Verwendung eines im Rahmen gesellschaftlicher Differenzierung entwickelten Codes deckungsgleich ist, ist fraglich.
Die Perspektive religiöser Konzeptionen und die Perspektive wissenschaftlicher Autoren, die eine sozial erzeugte Realität be­schreiben, stehen für N. auf derselben Ebene, alle sind für ihn Referenzen für seine Theorie des Medialen, die Existenz eines Heiligen, das sich in der Immanzenz offenbart und hier erfahrbar wird. Religion und Wissenschaft werden auf diese Weise entdifferenziert.
N. sucht die Fachidentität der Religionswissenschaft nicht in Abgrenzung zu anderen Disziplinen, sondern im Blick auf sie selbst. Hier hat es sich weitgehend durchgesetzt, dass der Gegenstand der Religion(en) nicht der Gegenstand der Religionswissenschaft ist. Es ist nicht das Heilige, Gott oder Transzendenz mit der sich das Fach befasst, sondern es sind soziale oder auch kulturelle Konstruktionen, die behandelt werden, unter Ausblendung der Frage, ob jenseits dessen etwas existiert oder nicht. Der Rückgriff auf eine Kategorie des Heiligen, welches sich offenbart und die Suche nach einer substantiellen Einheit aller Religionen ist hier weder theoretisch noch methodisch anschlussfähig. N. setzt sich ganz bewusst vom gängigen grundlegenden Fachverständnis ab, wie es von Fachvertretern wie Gladigow, Kippenberg oder Hutter entwickelt wurde. Der Gegenstand von Religion(en) ist letztlich auch N.s Gegenstand, der dementsprechend auch eine religiöse Sprache verwendet, vom »Heiligen«, »numinosen Kräften« (41) und der »Anderswelt« (56) schreibt und letztlich religiöse Aussagen macht. N. legt Wert darauf, nicht das Heilige selbst behandeln zu wollen, das empirisch nicht fassbar sei, sondern nur das Mediale. Seine Prämisse der Existenz eines Heiligen, dessen Kundgebung und Vermittlung im Medialen religiöse Quellen aufzeigen (41), ist mit (religions)wissenschaftlichen Methoden nicht zu falsifizieren oder zu verifizieren. Ein Ansatz, welcher auf dieser Prämisse aufbaut, ist mit einer kultur- und sozialwissenschaftlichen Religionswissenschaft, die sich in ihren Methoden und Fragestellungen an den Nachbardisziplinen Ethnologie, Soziologie, Geschichte und den Philologien orientiert, nicht kompatibel. Für eine interkulturelle Theologie oder Theologie der Religionen kann die Lektüre aufgrund der zahlreichen empirischen Beispiele und möglicherweise gerade auch durch ihren unorthodoxen Einbezug soziologischer Klassiker zur Diskussion anregen.