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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

21–23

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Brandes, Wolfram, u. Felicitas Schmieder [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Antichrist. Konstruktionen von Feindbildern.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2010. XVII, 292 S. 24,0 x 17,0 cm. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-05-004743-0.

Rezensent:

Wolf-Friedrich Schäufele

Der Antichrist hat Konjunktur. Davon zeugt der anzuzeigende Band, davon zeugt die Heerschau von neueren Literaturtiteln, die die Herausgeber in ihrer instruktiven, über die Forschungsgeschichte gut orientierenden Einleitung vorführen (worin der von M. Delgado und V. Leppin 2011 herausgegebene einschlägige Sammelband noch nicht einmal berücksichtigt ist). Dabei ist die Thematik längst aus ihren ursprünglichen Domänen, der neutestamentlichen Exegese und der Kirchengeschichte, ausgewandert. Es erscheint bezeichnend, dass an diesem Band praktisch keine Hauptfach-Theologen, dafür aber in größerer Zahl Historiker, Germanisten und Vertreter kleinerer Fächer mitgearbeitet haben.
Der Sammelband dokumentiert im Wesentlichen eine Tagung, die 2007 in Frankfurt am Main stattfand. Die Agenda, die die Herausgeber für Tagung und Band entwickelt haben und die in der Einleitung noch einmal minutiös entfaltet wird, ist ambitioniert und konnte eben darum, wenig überraschend, nicht eingelöst werden. Ganz im Sinne aktueller forschungspolitischer Korrektheit sollte die Antichrist-Thematik komparatistisch im Vergleich der drei monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam bearbeitet werden, ja mehr noch: »Die Tagung war … gezielt nicht nur transdisziplinär angelegt, sondern polykulturell in dem Sinne, dass die drei großen monotheistischen Religionen in den vergleichenden Blick kommen sollen in möglichst allen Einzelkulturen, die sie ausgebildet haben.« (XVI)
Dass derlei auf nicht einmal 300 Seiten schon rein quantitativ nicht zu leisten ist, leuchtet ein. Vor allem aber ist das Thema »Antichrist« für eine komparatistische Betrachtung nur wenig geeignet – ist der Antichrist doch eine wesentlich christliche Endzeitfigur, die in den beiden anderen Religionen nicht in gleicher Weise vorkommt, zumal sie dort auch nicht in den heiligen Schriften verankert ist. So sind weder der Sufyani noch der Dadjdjal, die in bestimmten islamischen Endtraditionen figurieren, dem christlichen Antichrist vollumfänglich vergleichbar ( Hannes Möhring, Die zwei Gesichter des Sufyani, 99–116), und die Gestalt des Armilos, die im 7. Jh. als Pendant des Antichrists in der Enderwartung des palästinischen Judentums auftauchte (L. Greisiger, Die Geburt des Armilos, 15–37), blieb ephemer. Ja, selbst im Christentum war es vor allem der lateinische Westen, der an der Gestalt des Antichrists interessiert war.
Die Stärke des Bandes liegt folglich nicht in einer komparatistischen Phänomenologie des Antichrists, sondern in der in einer Reihe von Beiträgen an ausgewählten Beispielen erfolgten Demonstration von wechselseitigen Kenntnis- und Bezugnahmen zwischen den verschiedenen Enderwartungen über Religions- und Kulturgrenzen hinweg. Dabei diente die Antichrist-Figur in verschiedener Weise zur »Konstruktion von Feindbildern«, die deshalb zu Recht im Untertitel des Bandes erwähnt wird. Regelmäßig geschah dies in der christlichen Wahrnehmung des Judentums, indem der zukünftige jüdische Messias nur als Anti-Messias zu Jesus Christus und mithin als Antichrist vorstellbar erschien. Auf diesem Wege ergab sich ein enger Zusammenhang zwischen dem christlichen Antijudaismus und wirklichem oder vermeintlichem jüdischem Messianismus, was für das 13. Jh. M. Oberweis (Jüdische Endzeiterwartung im 13. Jahrhundert – Realität oder christliche Projektion?, 147–158) und für die Reformationszeit R. Voß (»Propter seditionis hebraicae«, 197–217) nachweisen. Vermutlich waren es Konversionen von Christen zum Judentum, die den griechisch-orthodoxen Abt Nikolaos von Otranto den Antichrist am Werk sehen ließen (L. Hoffmann, Zum Verständnis des Antichrists im süditalienischen Griechentum, 135–146). Der antijudaistische Impuls ist noch in zu Beginn des 20. Jh.s in Russland verbreiteten Texten von Solov’ev und Serafim von Sarov zu finden, die in engem Zusammenhang mit den »Protokollen der Weisen von Zion« gesehen werden müssen (M. Hagemeister, Trilogie der Apokalypse, 255–275).
Demgegenüber hat die Antichrist-Figur in der christlichen Wahrnehmung des Islam im Mittelalter nur eine periphere Rolle gespielt. Dies gilt für die christlichen Kreuzzugschroniken (K. Skottki, Der Antichrist im Heiligen Land, 69–98) ebenso wie für die christliche Beurteilung Saladins, in der das negative Saladin-Bild, das vereinzelt auch auf die Figur des Antichrists Bezug nahm, schon früh dem Bild des »edlen Heiden« wich (D. Jäckel, Saladin und Antichrist, 117–134). Diese Befunde lassen sich zwanglos aus der Dominanz der von Adso von Montier-en-Der gleichsam kanonisch ausgearbeiteten biographischen Antichrist-Legende erklären. Im Protestantismus konnte der Islam dann neben dem Papsttum sehr wohl kollektiv als Antichrist figurieren; ein eigener Beitrag hierzu fehlt leider.
Fünf Beiträge des Bandes behandeln schließlich Spezialfragen aus der Wirkungsgeschichte der Antichrist-Vorstellung im Christentum. Vollständigkeit war dabei nicht angestrebt, wichtige und für das Gesamtverständnis erhellende Stationen der Entwicklung (Adso, Wyclif, Luther) bleiben unberücksichtigt. M. Rizzi behandelt die über die neutestamentlichen dicta probantia hinausgehende Konstruktion der Antichrist-Vorstellung bei Irenäus und Hippolyt (»L’ombra dell’anticristo nel cristianesimo orientale«, 1–13). Ein Schlaglicht auf die außerordentlich starke Antichrist-Erwartung bereits im vorhussitischen Böhmen Karls IV. und ihre politische Funktionalisierung wirft der Beitrag von P. Cermanová (»Die Erzählung vom Antichrist und seine Funktion in der religiösen und politischen Imagination im luxemburgischen Böhmen«, 159–178). Einen umfassenden Überblick über die Rolle des Antichrists in geistlichen Schauspielen wie auch in Fastnachtsspielen aus dem deutschen Sprachraum des 12. bis 16. Jh.s bieten K. Ridder und U. Barton (»Die Antichrist-Figur im mittelalterlichen Schauspiel«, 179–195). R.-P. Fuchs (»Das Wüten des bösen Feindes«, 219–234) stellt mit dem Juristen Theodor Graminaeus den seltenen Fall eines katholischen Apokalyptikers im letzten Viertel des 16. Jh.s vor, der mit Hilfe astrologischer Berechnungen Luther als Vorläufer des für 1666 erwarteten Antichrists zu erweisen suchte. Der originellen Aufnahme des Antichrist-Begriffs bei Nietzsche, der sich selbst damit zugleich als Gegner des Christentums wie auch als Sachwalter des ursprünglichen Anliegens Christi gegenüber der davon abgefallenen Kirche charakterisierte, widmet sich H. Busche (»Wer ist der Antichrist?«, 235–253).
Auch wenn der Band in Anlage und Durchführung alles andere als ein Kompendium der Antichrist-Vorstellungen der drei monotheistischen Religionen darstellt, ist er eine Fundgrube überraschender und erhellender Beobachtungen zur immanenten Potenz der Antichrist-Erwartung und zu ihrer Rolle im interreligiösen Kulturtransfer. Der Band ist gut lektoriert und enthält praktisch keine Druckfehler. Erfreulich und eigens hervorzuheben ist, dass in fast allen Beiträgen der Terminus »Antichrist« richtig dekliniert wird (wie mittelhochdeutsch »krist« = Christus; also: »des Antichrists«, »dem Antichrist«).