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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

38 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Goodman-Thau, Eveline

Titel/Untertitel:

Zeitbruch. Zur messianischen Grunderfahrung in der jüdischen Tradition.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 1995. 216 S. gr. 8o. geb. DM 78,­. ISBN 3-05-002511-5.

Rezensent:

Wolfgang Wiefel

Angesichts dieses in seiner Art singulären Buches sei es für einen Augenblick erlaubt, das undenkbar Gewordene sich vorzustellen: eine jüdische Gemeinschaft in Europa, der die Shoah erspart geblieben wäre, in deren Mitte das von Franz Rosenzweig 1922 in Frankfurt/M gegründete Lehrhaus fortbesteht als Pflegestätte einer jüdischen Glaubenswissenschaft, die sich von christlicher Theologie fundamental unterscheidet und dennoch ihr adäquater Gesprächspartner ist. Ein Strahl dieses Lichts, das nicht voll aufgegangen ist, erreicht uns in der Arbeit der israelischen Religionsphilosophin Eveline Goodman-Thau, entstanden in der Heimatstadt Franz Rosenzweigs, wo sie lernend und lehrend tätig wurde, bemüht um die Fortführung eines jüdischen Denkens jenseits von Traditionalismus und Liberalismus, wie sie der Kasseler Meister begründet hat. Sie wurde angeregt und begleitet von Ulrich Sonnemann, einem "Frankfurter höherer Ordnung", der für eine spezifische Gestalt kritischer Theorie einstand. Ihm verdankt sie die Ermutigung zu einem fragmentarischen, prismatischen Denken im Stile Walter Benjamins, das noch immer die Ratlosigkeit der Zunft provoziert.

Der erste Teil demonstriert an einer kursorischen Exegese des Buches Ruth, was die Autorin messianische Hermeneutik im Zeichen von Bruch und Entbindung nennt. Im Mittelpunkt des zweiten steht ein Triptychon, in dem die messianische Grunderfahrung im Werke dreier großer Lehrer dargestellt wird: Hermann Cohen (Messianischer Universalismus), Franz Rosenzweig (Messianismus als religiöse Anthropologie) und Martin Buber (Prophetischer Messianismus). Wie die hier praktizierte Exegese als ein tertium neben der historisch-kritischen des modernen Protestantismus und der patristischen Auslegung existiert (wiewohl sie mit letzterer eher verwandt erscheint), so steht auch die messianische Geschichtsdeutung jenseits von Philosophie und Theologie.

Als exegetisches Exempel wird das Buch Ruth gewählt (29-96). Ob man von einer zentralen Stellung sprechen kann, weil es am Wochenfest, dem Gedenktag der Gesetzgebung am Sinai gelesen wird, mag man fragen. Die vom Midrasch gespeiste, von kabbalistischer Deutung von Namen und Zahlen durchsetzte Auslegung erscheint dem Außenstehenden als eine schwer durchschaubare Reihung von textbezogenen Assoziationen und Allegoresen, die ein Eigenprofil gewinnt durch die der Autorin geschuldete deutlich feministische Note. Die ihre Interpretation der biblischen Schrift leitenden Stichworte wie Exil und Rückkehr, Begegnung und Erkenntnis deuten an, wie hier eine messianische Grunderfahrung herausgehört wird. Eine Kommunikation über die selbstgezogenen Grenzen hinaus gibt es nicht (wie reizvoll wäre eine Gegenüberstellung zu Gerhard von Rads berühmter Predigt über Ruth 1, EvTh 12, 1952/53, 1 ff., gewesen!), Erich Zenger (EB) ist der einzige Ausleger, der gelegentlich zu Wort kommt.

Die so eröffnete "Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten im Kommentar der mündlichen Lehre" gibt den Blick frei auf ein weites Feld ­ die jüdische Religionsphilosophie (der Moderne). Wenn man heute gern vom jüdisch-christlichen Disput um das gemeinsame Erbe des tenak spricht, so tritt uns hier ein Besitzanspruch entgegen, der sich nicht exegetisch, sondern religionsphilosophisch legitimiert (99-173).

Hermann Cohens in seinem religionsphilosophischen Spätwerk durchgeführte Deutung der praktischen Vernunft, die der Religion untergeordnet ist, beinhaltet eine Transformation des Menschen in die Menschheit, somit die Vorwegnahme der Zukunft einer messianischen Menschheit, der Erlösung am Ende der Tage. Ausgehend von einer Exegese von Gen 1 in seinem Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand (1921) werden Franz Rosenzweigs Reflexionen über die Sprache, das Wort und den Namen als Basis seiner Lehre von der Erlösung verstanden als einem Geschehen außerhalb der menschlichen Zeit und des menschlichen Handelns, die deshalb als ""Zeitbruch" zu begreifen ist. Damit ist nicht nur dem Buch der Titel bereitgestellt, vielmehr auch die schroffste Antithese zum christlichen Verständnis einer Erlösung in der Zeit fixiert. Daß Martin Buber mit seiner Verbindung von Erlösungslehre und dialogischem Denken diesem näher kommt und darum von christlichen Theologen ungleich stärker rezipiert wurde als der sperrige, gleichsam "jüdischere" Rosenzweig und der ihm darin nahestehende Scholem, ist selten so deutlich geworden wie in dieser luziden Präsentation. Wenn auch bei ihnen das Verständnis der Erlösung als Selbsterlösung eine Schranke bildet, so mag dies als Hinweis darauf verstanden werden, wie sehr dieses Werk die christliche Theologie dadurch herausfordert, daß es die Differenzen nicht überspielt, sondern dort unübersehbar macht, wo sie eigentlich liegen: im jüdischen Begreifen der Erlösung als Zeitbruch im Widerspruch zur Erlösung als Erfüllung der Zeit.