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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

19–21

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ansorge, Dirk [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Nahostkonflikt – politische, religiöse und theologische Dimensionen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 332 S. 21,0 x 14,8 cm = Beiträge zur Friedensethik, 43. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-17-021500-9.

Rezensent:

Almut Nothnagle

Die Zahl der zum Thema Nahostkonflikt erscheinenden Bücher und Artikel der letzten Jahre ist unüberschaubar. Dies ist nicht verwunderlich, zumal die Region der östlichen Levante das anhaltende politische, historische und religiöse Interesse auf sich zieht. Das wird sich vermutlich unter dem Eindruck der dramatischen Veränderungen in der arabischen Welt nicht ändern. Im vorliegenden Sammelband stellt der Herausgeber Dirk Ansorge, Dozent an der katholischen Akademie des Bistums Essen, »Die Wolfsburg«, eine Reihe von Beiträgen zu diesem Thema vor allem aus dem katholischen universitären Bereich, aber auch aus dem interreligiösen Dialog vor. Sie beziehen sich auf zwei Fachtagungen, die zwischen 2007 und 2008 in der Katholischen Akademie des Bistums Essen und Mülheim an der Ruhr stattfanden.
Wie ein roter Faden zieht sich das Thema »Landverheißung« durch die Beiträge. Ausgehend von dem funktions- und inhaltsorientierten Religionsbegriff, der von den Sozialwissenschaften benutzt wird, während der letztere Religionen als »soziale Institutionen zur Wissensbewältigung » (D. Ansorge) beschreibt, entfaltet der Herausgeber verschiedene Ausgangspositionen.
Die Grazer Alttestamentlerin Ulrike Baumgarten setzt sich mit der kontextuellen Auslegung biblischer Texte auseinander, wie z. B. der Landverheißung. Sie macht deutlich, dass diese zwar dem historischen Kontext Rechnung trägt, jedoch die ursprüngliche Intention ebendieser Texte verfälscht.
Wolfgang Zwickel beschäftigt sich mit dem spannungsreichen Thema der Deutung archäologischer Befunde, die zunehmend zur Untermauerung der jeweils eigenen ideologisch-politischen An­sprüche von beiden Konfliktparteien genutzt wird.
Auf die theologischen und politischen Dimensionen der Landverheißung geht der Tübinger Pastoraltheologe Otmar Fuchs ein. Er schenkt der Kategorie der Erwählung besondere Aufmerksamkeit. Er weist auf die Missverständlichkeit dieses Begriffes außerhalb des biblischen Kontextes hin, was zu einseitigen politischen Ansprüchen und zu einer Völker- und Menschenrecht verachtenden Situation führt. Letzteres wird in dem Artikel von Christina Pfestroff deutlich, die nachdrücklich die selektive Anwendung des Völkerrechts durch die Besatzungsmacht Israel kritisiert, wenn nicht sogar den Bruch des Völkerrechts im Blick auf den Alltag der Militärverwaltung in den besetzten Gebieten. Diese Kritik bezieht sich auf die Position der Bundesrepublik Deutschland angesichts der palästinensischen Initiative um einen eigenen Staat.
Drei eher historisch orientierte Beiträge nähern sich dem Thema aus christlicher (Ansorge), islamischer (Flores) und jüdischer (Driesch) Perspektive.
Dass die kritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Texttraditionen der biblischen Landverheißung nicht nur ein Thema historisch-kritischer Exegese ist, sondern das politische Tagesgeschehen bestimmt, machen die Beiträge von Claudia Baumgart-Ochse zur politischen Religion der jüdischen Siedlerbewegung und der Beitrag von Stephan Rosiny zur Märtyrerbewegung im Islam im Blick auf den Anspruch auf das Heilige Land deutlich.
Das Buch beschreibt mit seinen Beiträgen den Spannungsbogen der verschiedenen Aspekte des Nahostkonfliktes und leistet einen wichtigen Beitrag zur Wahrnehmung der östlichen Mittelmeerregion, in der sich Religion mit Politik in explosiver Weise vermischt. Dabei ist der israelisch-palästinensische Konflikt nur ein Mosaikstein eines umfassenderen Szenarios. Es liegt auch auf der Hand, dass es für die Lösung politischer Ziele in diesem jahrelang anhaltenden Konflikt keine leichten Lösungen gibt, weder auf dem Verhandlungsweg, noch auf dem Weg einseitiger, gewalttätiger oder gewaltfreier Aktionen.
Der Blick der Autoren verweilt nicht nur auf der nahöstlichen Region. Einer kritischen Bestandsaufnahme der Auslegungs- und In­terpretationsgeschichte biblischer Texte, die in Predigt- und Mo­raltheologie der christlichen Kirchen ihren vor allem judenfeindlichen Niederschlag gefunden hat, widmet sich der Beitrag von Thomas R. Elßner. Sie ist im Sinne der Aufarbeitung judenfeindlicher Tendenzen in Theologie und Kirchengeschichte auch dringend geboten.
Der Beitrag von Dirk Ansorge analysiert die Beweggründe und die Wirkungsgeschichte der evangelischen und katholischen Stellungnahmen zum Verhältnis von Christen und Juden und dem Staat Israel. Er beschreibt die durchaus unterschiedlichen Positionen der beiden großen Kirchen zu diesem Thema. Während die verschiedenen Synodenbeschlüsse und Verlautbarungen auf evangelischer Seite in ihrem Grundtenor das besondere Verhältnis von Kirche und Judentum als dem von Gott erwählten Volk und Israel als Ort der Verheißung betonen, findet sich auf der katholischen Seite eine starke Ambivalenz. Dies ist aufgrund des besonderen historischen und rechtlichen Verhältnisses zwischen dem Vatikan und dem Staat Israel eher als eine distanzierte Haltung zu beschreiben. Das Verhältnis zwischen dem Staat Israel und dem Vatikan ist nicht spannungsfrei, hat jedoch durch den Papstbesuch 2010 eine Annäherung erfahren.
Neben der christlichen Standortbestimmung auf der Basis eines gesicherten biblischen Befundes gewinnt in zunehmendem Maße im 21. Jh. das interreligiöse Gespräch an Bedeutung. Ein Austausch über das post-christlich-jüdische westliche Menschenbild und das des Islams, wie auch über das Rechts- und Gesellschaftsverständnis ist nicht erst seit dem 11. September 2001 ein Gebot der Stunde. Hier gilt es noch viel zu tun und so wagt sich der Sammelband beim Thema »Feindbild Islam« mutig auf ein umstrittenes Terrain. Dies betrifft vor allem die Beiträge, die sich mit dem Märtyrerverständnis ( Sasha Dehghani), aber auch mit dem Tötungsverbot im Islam beschäftigen.
Welche Lösungswege können aus der gegenwärtig verfahrenen Situation des Nahostkonfliktes aus politischer, theologischer und sozialer Perspektive aufgezeigt werden? – Darauf versucht Matthias Millard eine theologische Antwort zu finden mittels der Exegese von Genesistexten, in denen es um Trennungssituationen geht. Christina Pfestroff fordert eine politische Lösung, wie sie immer wieder von palästinensischer Seite und von Menschenrechtsgruppen vorgetragen wird. Sie zielt auf ein Ende der israelischen Besatzung in den palästinensischen Gebieten und die Anwendung von Menschen- und Völkerrechtsstandards der gegenwärtigen Besatzungsmacht.
Angesichts der Dramatik der Situation bezieht sich Thomas Hoppe in seinem Beitrag auf die kleinen Schritte, wie die Initiative »die Trauernden Eltern«, die u. a. dazu beitragen, dass die Vertreter beider Seiten einander als Menschen begegnen und füreinander Empathie entwickeln. Der Aufbau von Vertrauen in den Friedenswillen des anderen ist die vordringliche Aufgabe. Die christlichen Kirchen im Heiligen Land können vor allem durch die Unterstützung ihrer arabischen Partnerkirchen ihren Beitrag leisten. Bildungsarbeit ist auch Friedensinitiative in der Zivilgesellschaft.
Zum besseren Verstehen der Faktoren, die den gegenwärtigen Status quo bestimmen und Lösungsansätze vermitteln, leistet der Sammelband einen wertvollen Beitrag.