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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

21 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Vierling, Hermann

Titel/Untertitel:

Die Profane Alltags-Religion. Ein Beitrag zum integralen Religionsverständnis.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1994. 159 S. 8o. Kart. DM 54,­. ISBN 3-631-48048-2.

Rezensent:

Christoph Bochinger

Das kleine, dicht geschriebene Buch geht von der Grundthese aus, daß Religion durch die Säkularisierungsprozesse der Moderne nicht ersatzlos verschwinde, sondern sich zu neuer Gestalt verwandle. Die Ergebnisse der Säkularisierung, die Säkularisate, sollten nicht einseitig von der Wurzel christlicher Religion her gedacht werden, weil damit "Religion" definitorisch weiterhin mit der Tradition identisch bleibe und "säkularisierte Religion" nicht als eigene Religionsform, sondern bestenfalls als "Religionsersatz" thematisiert werden könne (12). Daher vertauscht der Autor den Begriff der "Säkularisierung" gegen den des "Profanen", den er aus der religionswissenschaftlichen Unterscheidung von "heilig" und "profan" entwickelt (17-21). Religion ist nach seinem Verständnis ein vom Profanen abgegrenzter, aber nicht antinomisch geschiedener Bereich (20).

"Profane Alltagsreligion" muß innerhalb der Alltagswelt aufgesucht werden. Wenn keine Rückbindungen an traditionell vermittelte Dimensionen des Religiösen vorhanden sind, gewinnt der Alltag selbst eine außeralltägliche Bedeutung. Der "Himmel" verlagert sich in das "Selbst" (43 ff.), die Erfahrung des Transzendenten verschafft sich als Erfahrung von Freiheit Gestalt (56 ff.). Diese Religion legt relativ wenig Wert auf abstrahierende Selbstreflexion. Es handelt sich um "eine ausgesprochene Handlungsreligion, die... den theoretischen Fragestellungen weitgehend ausweicht" (108). Vor dem Erfahrungshintergrund eines mehrjährigen Aufenthalts in Indonesien faßt sie V. als eine Art "Stammesreligion" auf. Um sie dennoch reflektierend zu erfassen, übernimmt er aus seiner missionswissenschaftlichen Dissertation über die Kendayan in Kalimantan die Unterscheidung zwischen einer "raumlogischen" und einer "kraftlogischen" Eigenschaft des menschlichen Geistes (32, nach Bomann; vgl. H. Vierling: Hermeneutik ­ Stammesreligion ­ Evangelium, Gütersloh 1990).

Im Hauptteil des Buches wird zunächst ein allgemeines Netz von Beschreibungsmustern für "Religion" entwickelt. Es entstehen vier Doppelkriterien: a) "der Über-Ort" und "die Über-Macht", b) "das Transzendente und das Absolute", c) "das Unbedingte und das Heilige", d) "der Horizont und die Spannkraft". Die Stichworte gehören jeweils paarweise als "raumlogische" und "kraftlogische" Entsprechungen zusammen. Anschließend werden diese Kriterien, die als Auffächerung und Bewußtmachung eines allgemeinen Religionsverständnisses dienen sollen, jeweils Entsprechungen aus der modernen Alltagswelt zugeordnet: a) "das Selbst und das Vitale", b) "das Freie und das Überzeugende", c) "das Fraglose und das Dringende", d) "das Machbare und das Leistungsstarke". Da solche Entsprechungen lückenlos benannt werden könnten, sei der Schluß berechtigt, den Alltag als "vollgültige Religion" zu deuten (108).

Das Buch zeichnet sich dadurch aus, daß es nicht in der Pose kirchlich-bürgerlicher Kulturkritik verharrt, sondern einen konstruktiven Weg vorschlägt, wie man die Widersprüchlichkeit säkularer Religion beschreiben, verstehen und wissenschaftlich analysieren kann. Es wird seinem deskriptiven und hermeneutischen Anspruch im ganzen aber nicht gerecht. Die Beispiele zur Beschreibung der "Alltagsreligion" sind willkürlich und wenig gegenwartsspezifisch (z.B. der Ausspruch "Hauptsache Gesundheit!" als Beleg für "Vitalität" in der Profanen Alltagsreligion, 47). Sie erfüllen nicht den Zweck einer induktiven Ermittlung allgemeingültiger Muster. Methodisch wird dies an der Kombination der Alltagssoziologie von A. Schütz und Th. Luckmann mit der religionsphänomenologischen Machttheroie G. v. d. Leeuws (40 u.ö.) sichtbar. Dabei entstehen apodiktische Sätze über "die" Religion, die durch Gegenbeispiele aus der Religionsgeschichte leicht widerlegt werden können (z.B. auf 38: "Jede Religion kennt einen himmlischen Ort", ähnlich 39, 44, u.ö.). Sie laufen auch der Methodik der "phänomenologischen Reduktion" (Schütz/Luckmann) zuwider, weil sie Elemente spezifischer religiöser Erfahrung und Mythologie ohne Prüfung und Kennzeichnung ihres Kontextes verallgemeinern. Häufig bleibt unklar, ob die gewonnenen Kategorien substantiell oder metaphorisch zu verstehen sind. Eine Rezeption der religionswissenschaftlichen Binnenkritik an der kryptotheologischen Qualität der Religionsphänomenologie (z.B. HrwG, Bd. 1) hätte hier klärend wirken können.

Fazit: Die Profane Alltagsreligion gibt es nicht. Gleichwohl enthält das Buch interessante Provokationen geläufiger Wahrnehmungsmuster von Religion und wirft hermeneutische Fragen auf, die weitere Beschäftigung verdienen.