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Ausgabe: | Dezember/2011 |
Spalte: | 1375-1377 |
Kategorie: | Religionspädagogik, Katechetik |
Autor/Hrsg.: | Mokrosch, Reinhold, u. Arnim Regenbogen [Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | Werte-Erziehung und Schule. Ein Handbuch für Unterrichtende. |
Verlag: | Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 375 S. gr.8°. Kart. EUR 39,95. ISBN 978-3-525-58001-1. |
Rezensent: | Thomas Schlag |
Schulische Bildung steht vor der Herausforderung, angesichts des breit konstatierten gesellschaftlichen Werteverlustes Möglichkeiten und Modelle gelingender Werte-Erziehung zu entwickeln. Sie läuft zugleich aber auch Gefahr, sich am Ende primär von dieser Zielsetzung her definieren und legitimieren zu wollen. Die Rede von der Werte-Erziehung ist folglich zweischneidig und spannungsvoll. Dieser Band, als Handbuch für Unterrichtende ausgelegt, will mit diesen Spannungen produktiv umgehen.
Vorgelegt wird ein von Osnabrück aus lanciertes interdisziplinär ausgerichtetes, überblickshaftes Gesamtunternehmen, das durch den Religionspädagogen Reinhold Mokrosch und den Philosophen Arnim Regenbogen maßgeblich auf den Weg gebracht wurde. Schon ein Blick in die Gliederung und das breite Feld der Autorenschaft macht den weitreichenden Anspruch des Bandes deutlich: Hier versammeln sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster fachwissenschaftlicher Herkunft, von denen die Mehrzahl zugleich in ausgewiesenem Sinn über fachdidaktische Kompetenz verfügen.
Der Gesamtaufriss des Buches erschließt den Zielhorizont, in dem die Herausgeber über den Sachstand in grundsätzlicher Weise informieren wollen, wobei für sie, wie im Vorwort ausgeführt wird, grundsätzlich gilt, dass »Werte-Erziehung weniger Werte-Vermittlung als vielmehr Werte-Beziehung und Werte-Begleitung beinhaltet« (10) und von daher vor allem für die Initiierung schulischer Werte-Dialoge eingetreten wird. Dass dies ausdrücklich unterschiedliche Formen bewusster und unbewusster, direkter oder bzw. und indirekter Art umfasst, wird nicht nur von den Herausgebern festgehalten, sondern zieht sich auch erkennbar als roter Faden durch das breite Tableau der unterschiedlichen Teilkapitel und insgesamt 40 Einzelbeiträge von 33 Autorinnen und Autoren. Zugleich wird auch durch den Band hindurch die durchaus ideologiekritische Grundeinsicht der Herausgeber deutlich, dass das primäre schulische Ziel nicht die Identifikationsbereitschaft Jugendlicher mit den Maßstäben der gegenwärtigen ökonomischen und politischen Machtverhältnisse (vgl. 41) sein kann, sondern die Sensibilisierung für umfassende ethische, demokratische und ökologische Ideale (vgl. ebd.).
In einem fachübergreifenden Kapitel I., das mit »Orientierung« (13–40) überschrieben ist, unternimmt Karl Ernst Nipkow eine allgemeinpädagogisch ausgerichtete Grundlegung, indem er für die Frage einer Werte-Erziehung in der Schule zuerst einmal den Bildungs- und Erziehungsbegriff näher bestimmt (15–24). Arnim Regenbogen unternimmt eine sinnvolle Näherbestimmung des Wertbegriffs durch die Differenzierung von kulturellen Handlungsmustern und individuellen Maßstäben (25–31) und macht dabei richtigerweise auf die Komplementarität ästhetischer, religiöser und ethischer Werte aufmerksam. Reinhold Mokrosch präsentiert modellhaft unterschiedliche schulische Werte-Erziehungs-Modelle und verbindet dies mit der einleuchtenden These, dass sich Werte immer erst in actu entfalten.
Damit ist das Feld für die näheren Einblicke frei und den Herausgebern gelingt es durch eine kreative Feingliederung, dieses tatsächlich in seiner Komplexität anschaulich werden zu lassen. Dies geschieht anhand von vier größeren Teilen.
Im II. Kapitel »Grundwerte und ihre Facetten – Basis für eine Werte-Bildung durch Erziehung« (41–125) werden unterschiedliche Themen vornehmlich überblickshaft und jeweils im Horizont der schulischen Werte-Erziehungsfrage behandelt: so Frieden durch Reinhold Mokrosch (43–51), Freiheit durch Reinhold Mokrosch und den Religionswissenschaftler Lorenz Wilkens (52–60), die Dimension der Wahrhaftigkeit durch die Psychologin Gundela Regenbogen (61–69), Gerechtigkeit durch Arnim Regenbogen (70–77), Solidarität durch den Sozialwissenschaftler Harald Kerber und Reinhold Mokrosch (78–85), Menschenwürde durch den systematischen Theologen Arnulf von Scheliha (86–94), Gesundheit, Fitness, Wohlbefinden durch die Sportwissenschaftlerin Kulkanti Barboza (95–101), Schönheit durch den Philosophen Jörg Zimmer (102–108), Nachhaltigkeit und intergenerationelle Gerechtigkeit in Hinsicht auf Umweltbildung durch Gerhard Becker (109–117) sowie Werte und Normen, Tugenden und Regeln durch den Erziehungswissenschaftler Josef Fellsches (118–125).
In Teil III werden in der Perspektive »Allgemeiner Grundlagen einer Werte-Erziehung in der Schule« (127–170) bedeutsame Facetten des Feldes näher erörtert, und dies einerseits im Modus soziologischer Reflexionen durch Steffen Bahlke (129–135), im historischen aufschlussreichen Rückblick durch Friedrich Schweitzer (136–145), in der Darstellung der Entwicklung des moralischen Urteils im Lebenslauf durch Martina Blasberg-Kuhnke (146–153), in Hinsicht auf den Zusammenhang von Jugendsprache und Werten durch Gottfried Orth (154–161) und durch eine nochmalige Diagnose des aktuellen Werte-Wandels durch Karl-Heinz Hillmann (162–170).
Der IV. Teil ist nun gerade für den Blick über die einzelnen Fachwissenschaften und schulischen Fächer hinaus als besonders wertvoll und aufschlussreich anzusehen, da er sich der »Werte-Erziehung als Fächer übergreifendes Unterrichtsprinzip« (171–244) widmet.
Hier werden durch Rabeya Müller aus islamischer Perspektive Standards interkultureller Erziehung präsentiert (173–179), Aspekte einer ästhetischen Erziehung als Werte-Erziehung durch die Philosophin Melanie Obraz thematisiert (180–188), durch Angelika und Arnim Regenbogen Dimensionen einer Erziehung zu Recht und Gerechtigkeit erschlossen (189–195), während Reinhold Mokrosch eine Erziehung zum Frieden stark macht (196–203) und Ingo Regenbogen als freiberuflicher Drehbuchautor (!) Aspekte der Werte-Erziehung durch die Medien anspricht (204–210). Der Anglist Helmut Vollmer geht auf Fragen der Sozialisation und Wertbildung durch Mehrsprachigkeit ein (211–219), Umweltbildung als Bildung für nachhaltige Entwicklung wird von Gerhard Becker entfaltet (221–229), die Sozialpädagogin Hildegard Müller-Kohlenberg stellt Möglichkeiten informellen Lernens in der Grundschule dar (230–237) und die Religionspädagogin und Erziehungswissenschaftlerin Annebelle Pithan sensibilisiert für das Thema Integrationserziehung (238–244).
Im V. Teil werden unter dem Titel Werte-Erziehung in spezifischen Fächern und Fächergruppen (247–334) nochmals von jeweils fachdidaktischer Seite einerseits Einzelbeobachtungen und -reflexionen zum Musik-, Kunst-, Sport- und Literaturunterricht angestellt. Sabine Giesebrecht entfaltet Werte-Vorstellungen im gymnasialen Musikunterricht (247–254), Melanie Obraz kommt auf Ästhetische Werte als Maßstäbe für die Beurteilung von Kunstwerken zu sprechen (255–260), der Sportwissenschaftler Franz Bockrath behandelt das Feld der Sport-Ethik (261–267), Kulkanti Baboza Fragen der Gesundheitserziehung im Schulsport (268–274) und der Sportwissenschaftler Volker Schürmann die wertebezogenen Herausforderungen durch den Wettkampfsport (275–281). Für den Literatur-, insbesondere den Deutschunterricht entfaltet die Sprach- und Literaturwissenschaftlerin Ortrun Niethammer die wesentlichen Aspekte (282–289).
Zudem finden sich aufschlussreiche Beobachtungen zum Religions-, Ethik- und Philosophieunterricht: so zur religiösen Bildung durch Rainer Lachmann (290–298), zum Thema interreligiöser und interkultureller Begegnung Johannes Lähnemann (299–305), zur Werte-Bildung durch gelebten christlichen Glauben der katholische Religionspädagoge Norbert Mette (306–312), im Blick auf den Kontext ökumenischen Lernens Ulrich Becker (313–319) sowie zum Ethik-Unterricht der Gymnasiallehrer Harald Stripp und – eher zum Philosophieren als zum Philosophieunterricht – wiederum Josef Fellsches (327–333). Leider sind hier weder Geschichts- noch Politikunterricht berücksichtigt, und dass insbesondere das für die Werte-Erziehung besonders brisante Feld des Wirtschaftsunterrichts nicht bearbeitet wird, mag ebenso erstaunen wie das komplette Fehlen der naturwissenschaftlichen Dimensionen, die gerade in Fragen des Menschenbildes und der Sozialitätsvorstellungen hier in besonderer Weise bildungsbedeutsame Größen im schulischen Kontext darstellen.
Mit dem VI. Teil, einem von Josef Fellsches und Arnim Regenbogen erstellten und schön zusammengestellten »Lexikon der Werte« (337–362), schließt der Band samt einem Sach- und Personenregister (363–370) ab.
Zwar ist die Entscheidung, ob es sich hier nun um ein Handbuch oder nicht doch eher um einen lexikalisch informierenden Aufsatzband handelt, nicht in allen Fällen klar erkennbar, da die Darstellungsform und Länge der Artikel oftmals gerade einen Weg dazwischen sucht und damit über die informativ darstellenden Teile hinaus für eine vertiefte Erörterung der wesentlichen Problemanzeigen oftmals nicht ausreichend Raum geboten ist. Gleichwohl liegt der besondere Erkenntnisgewinn des Bandes darin, dass er – im Sinn eines überblickshaften Nachschlagemediums gute Einblicke in den Stand der Werte-Erziehungs-Debatte in den einzelnen Fachwissenschaften und Fachdidaktiken erlaubt und zugleich für die oftmals sehr abgeschlossenen fachdidaktischen Debatten gute interdisziplinäre Anschlussmöglichkeiten eröffnet. Denn bei aller Vielfalt zeigt sich doch, dass die Ausgangsfragen, Problemstellungen und teilweise auch die Lösungsansätze sich in vielen Fällen nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Und die Gefahr manipulativer »Werte«-Indoktrination besteht offenbar, wie in vielen Beiträgen plastisch zum Ausdruck kommt, quer durch alle Disziplinen und Fächer hindurch. Damit wird implizit und explizit ein wichtiges und vehementes Plädoyer für die Notwendigkeit eines zukünftig sehr viel stärkeren und notwendigen Austausches der einzelnen Fachdidaktiken und Unterrichtsfächer zum Thema der Werte-Erziehung und weit darüber hinaus eine wichtige Orientierung zur schulischen Bildung im Horizont der Humanität geliefert. Dass damit auch die wichtige Rolle religiöser Bildung im öffentlich-schulischen Kontext plausibel zum Ausdruck gebracht wird, ist angesichts mancher Infragestellung des Faches vor Ort ausdrücklich zu begrüßen.