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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1372-1375

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kaspari, Tobias

Titel/Untertitel:

Das Eigene und das Fremde. Phänomenolo­gische Grundlegung evangelischer Religionsdidaktik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 470 S. gr.8° = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 44. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-02792-7.

Rezensent:

Bernhard Dressler

Ein bemerkenswertes Buch ist diese Mainzer Dissertation von Tobias Kaspari auch dann, wenn sie Widerspruch provoziert. In gewisser Weise lässt sie sich als eine theoretische Fundierung der These des verstorbenen religionsdidaktischen Altmeisters Chris­toph Bizer lesen, dass im Unterricht der christlichen Religion diese selbst zur gestalteten Darstellung kommen muss. Pointiert geht K. davon aus, dass »der Unterricht selbst eine religiöse Praxisform« ist (12 u. ö.). Für die Christentumsgeschichte konstitutiv sei die Verbindung von Religion und Unterricht als Folge »der bleibenden Vermitteltheit des Evangeliums in die Lebenswelt, die nicht in die Unmittelbarkeit des Bewusstseins aufgehoben werden kann. Die Inkarnation fundiert die phänomenale Leiblichkeit christlicher Religion, die darum stets an ihre Unterrichtung gebunden bleibt.« (13) Religion, so spitzt K. den Religionsbegriff Schleiermachers zu, »ist ein Phänomen sui generis; sie ist weder moralisch notwendig noch vernünftig geboten, sondern eine kontingente, eigene Sphäre der Lebenswelt« und zugleich »durch den Bezug auf ein unableitbar Fremdes gegeben«.
Damit ist die Programmatik des Buchtitels bezeichnet: K. wendet sich gegen jene vorherrschenden religionspädagogischen Konzepte, die die Alterität der Religion ins Eigene des Bewusstseins aufheben wollen. Da aber die christliche Religion keine Konstruktion eines frommen Subjekts, sondern unbegründbar gegeben sei, soll Religion im Unterricht so zur Wahrnehmung gebracht werden, dass »das Fremde als Gegenüber anzuerkennen und nicht zu nivellieren« ist (14). Es leuchtet ein, dass eine Religionsdidaktik, die bei der Gegebenheit christlicher Religion ansetzt, einer phänomenologischen Grundlegung bedarf. In einer gründlichen (und durchaus für sich lesenswerten) Rekonstruktion von drei phänomenologischen Entwürfen (E. Husserl, M. Merleau-Ponty und B. Waldenfels) liegt denn auch nach einer programmatischen Einleitung (»Christliche Religion als Unterricht«, 11–26) der erste große Schwerpunkt (27–249), an den sich dann der Entwurf einer »Phänomenologisch orientierten Didaktik christlicher Religion« (250–369) und ein prononcierter, so noch nicht gelesener Vorschlag zum Thema »Fremde Religionen im Unterricht christlicher Religion« (370–448) an­schließt, der mich trotz der Vorbehalte gegen K.s religionsdidaktisches Grundprogramm am stärksten überzeugt.
Von begrenzter Bedeutung ist für K. Husserls transzendentaler Idealismus, weil in ihm alles Fremde als bloß Anderes des Eigenen erscheine. Deshalb führe Merleau-Pontys Leibphänomenologie weiter, die in der leiblichen Fundiertheit der Wahrnehmung zugleich deren perspektivische Endlichkeit konstituiert sieht und damit jede Totalperspektive ausschließt. Da schließlich Waldenfels »die Phänomenologie dezidiert als Lehre vom Fremden aus­-gearbeitet« habe, könne »die Erfahrung des Fremden in einem Fremdwerden der Erfahrung des Eigenen« gipfeln (19). Es soll hier unerörtert bleiben, ob Leiblichkeit im Horizont phänomenologischen Denkens derart schroff wie von K. gegen Be­wusstheit in Stellung ge­bracht werden muss. Kritisch gegen andere religionsdi­daktische Anschlüsse an Bizer wendet K. die phänomenale Präsenz der Religion gegen eine »religiöse Un­mittelbarkeit«, die »mit der Chiffre von der Unverfügbarkeit des Glaubens« die Zugänglichkeit religiöser Gegenstände im Unterricht verschließt, während dagegen »die mit der Wahrnehmung gesetzte, unhintergehbare Mit­telbarkeit christlicher Religion in ihren leiblichen Phänomenen den Überstieg in jene religiöse Unmittelbarkeit« verhindere (18).
Vor diesem Theoriehintergrund (der in intensiven Reflexionen u. a. zur Christologie und zum Verhältnis zwischen deus absconditus und deus revelatus theologisch ausführt wird) meint K., dass religionsdidaktisch die (phänomenologische) Kategorie der Präsenz gegen die (semiotische) Kategorie der Signifikanz stark ge­macht werden muss. K. legt, so könnte man sagen, eine starke Variante performativer Religionsdidaktik vor, die m. E. aber letztlich die Bedingungen und Möglichkeiten der Schule (und, wegen der darin unverzichtbar einbeschlossenen reflexiven Subjektivität, von Bildungsprozessen überhaupt) sprengt.
Ganz zu Recht (und leider notwendig) wendet sich K. gegen jene Religionsdidaktiken, die die »Gestalt vorfindlichen Christentums zu stabilisieren oder zu sanieren« und sich »über Strategien sekundärer Vermittlung zum Vehikel aktuell vorherrschender Tradition, Kultur oder Moral zu machen« versuchen. Der Religionsunterricht solle weder erzieherisch funktionalisiert werden, noch solle er »Glaube zur Bedingung seiner Möglichkeit und damit zum unverfügbaren Bewusstseinsinhalt« erklären (287). Die Kritik an dem in den Bildungsverlautbarungen der EKD do­minant gewordenen Konzept von »Identität und Verständigung« wird hier fundierter als anderswo formuliert: Das »Konvergenz-Paradigma von Glaubensidentität und Verständigung« zeige die »Tendenz zu einem hermetischen Selbstabschluss der Identität nach innen, um sich vor der Anfechtung des Pluralismus nach außen abzusichern, und hernach, ganz bei sich bleibend, in Kommunikation mit anderen zu treten« (315); und: »Mit der Form fehlt die Möglichkeit der Wahrnehmung; Identität wird zur Forderung« (317).
Zustimmungsfähig erscheint mir auch, didaktisch davon auszugehen, dass »Religion eine Praxis (ist) und weder naturwüchsige Grundausstattung des Menschen, noch transzendentales Glaubensgefühl« und sie deshalb »erlernbar und über Unterricht zugänglich sein« müsse (265). Ebenso die Auffassung von Unterricht »als leibräumliches, darstellendes Spiel«, das sich »in der Spannung von Zeigen und Wahrnehmen einer Sache ereignet und auf Darstellung und Teilhabe der Lernenden ausgerichtet ist« (282). Einen – dann freilich entscheidenden – Schritt zu weit geht K. aber, wenn er daran an­schließend fordert, dass der »Unterricht in christlicher Religion … primär nichts anderes [!] [vermitteln soll] als die christologisch be­stimmte Teilhabe von Gott und Mensch aneinander« (283).
So sehr ich den Wechselbezug von Vollzug und Gehalt religiöser Kommunikation für didaktisch maßgeblich halte, geht doch deren theologische Aufladung zum »Ereignis« an der Schule vorbei. Die Vorstellung eines auf »Präsenz« zielenden Unterrichts als religiöse Praxis scheint mir nicht nur den pädagogischen Eigensinn zu ignorieren, wie ihn die Institution Schule zu gewährleisten hat, sondern ist dort schon aus ganz praktischen, z. B. atmosphärischen Gründen nicht denkbar, selbst wenn man dieses Konzept sonst gutheißen würde.
K. verkennt den Status und die faktischen Bedingungen der öffentlichen Schule, die – auch unter der Voraussetzung von Art. 7.3 GG – als Institution des weltanschaulich neutralen Staats die von K. historisch und genetisch betonte ursprüngliche katechetische Einheit von Religion und Unterricht – vorsichtig gesagt – modifiziert. Der schulische Religionsunterricht soll (und das gehört leider noch zu wenig zum religionspädagogischen Konsens) auf das Religionssystem referieren, aber er gehört nicht einfach zum Religionssystem. Das Proprium des Pädagogischen hat sich hier auf das Proprium der Religion zu beziehen, ohne dass das Eine das Andere überwältigen darf. Dagegen schließt K. die Ereignishaftigkeit des unterrichtlichen Spiels mit dem religiösen Kult gleichsam kurz. Zu unmittelbar wird die Phänomenologie (als eigensinniger philosophischer Diskurs) von K. auf das eigensinnige Handlungsfeld schulischen Unterrichts übertragen: Phänomenologie lässt sich nicht unvermittelt in die Pragmatik pädagogischen Handelns übersetzen. Dessen Eigensinn ist anzuerkennen, um seine »Kunstregeln« (Schleiermacher) zu be­herrschen. Dazu gehört: Fremdheit muss didaktisch dosiert werden, um zwischen bloßem Rauschen und der Affirmation des immer schon Bekannten kognitive Dissonanzen als Lernimpulse er­zeugen zu können.
Man gewinnt bei der Lektüre keine konkrete Vorstellung, wie der von K. gewollte Religionsunterricht aussehen könnte. Zwischen der theoretischen Grundlegung und der Ausführung einer Didaktiktheorie sind erheblich differenziertere Zwischenschritte nötig. Wie der Sprung aus steilen theologischen Einsichten in den Schulunterricht der öffentlichen Schule gelingen soll, bleibt offen.
Dennoch: Lesenswert ist dieses aspektreiche und gelehrte Buch allemal. Und zwar nicht nur, weil es fundierte Einsichten in die Gewinne und Probleme (zu wenig: in die Grenzen) einer phäno­menologischen Orientierung der Religionsdidaktik eröffnet, sondern weil es darüber hinaus eine Fülle interessanter, teils überzeugender, teils zum Widerspruch reizender religionspädagogischer Überlegungen bietet. Leider wird der Lesefluss durch eine ungewöhnliche Häufigkeit von Schreibfehlern gestört.