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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1369-1372

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Johannessen, Kai Ingolf [Ed.]

Titel/Untertitel:

Religious Education in Contemporary Society. Nordplus Neighbour Programme.

Verlag:

Oslo/ Talinn: Diakonhjemmet University College/Logos Verlag 2011. 173 S. 8°. Kart. ISBN 978-9985-0654-0.

Rezensent:

Jobst Reller

Der norwegische Forschungsrat finanzierte von 2005–2007 im Rahmen des »Nordplus Neighbour Programme« ein Forschungsprojekt zum Stand des Religionsunterrichts in Anrainerstaaten der Ostsee. Forscher aus Finnland (Arto Kallioniemi, Pekka Launonen, Pirjo Hakkala), Estland (Pille Valk), Norwegen (der Herausgeber und Einar Vetvik), Lettland (Anta Filipsone), aber auch Russland (Vladimir Fedorov vom orthodoxen Institut für Missionswissenschaft in St. Petersburg) nahmen an den Konsultationen teil. Von besonderem Interesse dürften einmal die Beiträge zur Situation des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen in Norwegen sein, nachdem das Konzept des religionskundlichen und zugleich konfessionellen Faches »Christentum, Religion, Lebensanschauung« 2005 gerichtlich gescheitert ist, aber auch die Beiträge zur Lage in den jungen baltischen Staaten. Daneben treten Beiträge zur Ausbildung von Jugend- und Sozialarbeitern in Norwegen und Finnland.
Die leider 2009 früh verstorbene Pille Valk, Professorin an der theo­logischen Fakultät der Universität Tartu, überschreibt ihren Beitrag folgendermaßen: »Contextual Approach to Designing a Re­ligious Education Syllabus – How Does it Work?« (35–73). Wenige andere Themen hätten in den Jahren nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion mit ihrem staatlich verordneten Atheismus eine derartige öffentliche Aufmerksamkeit gefunden wie der wieder zu­gelassene Religionsunterricht, ohne dass Konsens über die Inhalte geherrscht hätte. Da Religionsunterricht als Wahlfach bei sowieso stark gefülltem Stundenplan ermöglicht wurde, musste er einladend für Schüler konzipiert werden und zugleich der säkularisierten estnischen Gesellschaft Rechnung tragen. Pikantes Detail der jüngeren estnischen Geschichte ist, dass es zum einen die junge estnische Republik war, die 1920 im Gefolge der russischen Revo­-lution den Religionsunterricht aus den Grundschulen verbannte, ihn allerdings auf Wunsch der Eltern 1923 wie in Deutschland wieder einführen musste, bzw. noch die Sowjetrepublik im Mai 1990 Religionsunterricht an der Schule ermöglichte, die ersten Verlautbarungen zum Religionsunterricht also in die Sowjetzeit zurück­reichten (46 f.). Mittlerweile müssen Schulen Religionsunterricht anbieten, wenn 15 Eltern das Interesse äußern. Dennoch scheiterte das Parlament 2006 und 2007 damit, den Religionsunterricht ge­setzlich zu regeln (47). De facto entscheiden oft persönliche Faktoren in der Schulleitung oder auch in den übergeordneten Stellen über den Religionsunterricht, so dass Theorie und Praxis des Religionsunterrichts auseinanderklaffen können.
Valk entwickelte parallel zur 1995 eingesetzten staatlich-kirchlichen Kommission für den Religionsunterricht ein kontextuelles Modell in Anlehnung an den finnischen Forscher K. Tamminen aus sechs Komponenten in zwei Themenkreisen, a) dem nationalen Curriculum, der nationalen bzw. internationalen Tradition des Religionsunterrichts und b) dem historisch kulturellen Hintergrund, der religiösen Landschaft und nationalen Gesetzgebung und den Haltungen und Erwartungen gegenüber dem Religionsunterricht. Die Generation der über 35-Jährigen wuchs seit den 1960er Jahren mit massiven Atheisierungskampagnen auf, die dazu führten, dass die Kirchenmitgliedschaft in der lutherischen Kirche von 78,8 % (1934) auf 3 % (1986) fiel und nach einer Welle hoher Erwartungen 1992 nur bescheiden wieder anstieg auf 14 % (2000). Zusammen mit der orthodoxen, im Nordosten starken Kirche bekennen sich etwa 27% der Esten zu einer Mainstreamkirche (42). Immerhin 31 % aller Esten machten keinerlei festlegende Angaben, 34 % schlossen kategorisch jede religiöse Prägung aus. Zwar nehmen 2005 54 % aller Esten einen »Geist« oder eine »Lebenskraft« an, aber nur 16 % die Exis­tenz eines Gottes. Die EU-weiten Durchschnittswerte lagen bei 27 bzw. 52 %. Man kann ermessen, wie grundlegend traditionelle christliche Theoriegebäude zerstört worden sind. Drei weitere Um­fragen unter Oberschülern in den Jahren 2004/5 belegen, dass nur ein verschwindend kleiner Teil der Schüler einen religiösen Hintergrund oder eine religiöse Bindung hat. Dennoch ist Religion weithin vorurteilsbesetzt als unwissenschaftliches Relikt (40).
Erste Konsequenz ist, dass Religionsunterricht die Rolle des Christentums ausgewogen darstellen muss – zwischen den Polen gewaltsamer imperialistischer Schwertmission des 13. Jh.s und der Förderung der eigenen Ethnie durch die Brüdergemeine, dass der durch die Sowjetzeit geförderte misstrauische Individualismus nur offene, dialogische Information zulässt, die kulturelle Vielfalt Estlands zur Sprache bringt und durch Information zur Versöhnung der estnischen und russischen Bevölkerungsgruppe beiträgt. Wenn auch klein an Zahl, so haben doch russische Altgläubige am Peipussee eine eigene Kultur ausgeprägt bzw. hat sich tatarischer Islam seit dem 18. Jh. erhalten (43)! Religionsunterricht hat entsprechend als ein staatlich anerkanntes Ziel, zur Wahrnehmung lokaler und multikultureller Tradition und zur Sprachfähigkeit zu verhelfen.
Umfragen unter Schuldirektoren und Lehrern zeigen, dass religiöse Lernin­halte wie Ethik, Weltreligionen, Religion und Kultur sehr positiv bewertet wurden, während kirchenbezogene Inhalte wie Glaubenslehre am wenigsten Rückhalt fanden. Umfragen unter Schülern als »wirklichen Kindern der säkularisierten Gesellschaft« zeigen deutlich, dass nur ein Ansatz bei den Interessen der Schüler Offenheit für religiöse Fragen bringen kann, klassisch konfessionelle Themen allenfalls als Teilaspekte vorkommen können. Ebendies zeigt wiederum die Notwendigkeit einer religionspädagogischen Ausbildung, die zur Anknüpfung und Übersetzung befähigt (57). Die faktisch immer noch sehr disparate Lage des Religionsunterrichts in Estland hat bei der Ausarbeitung des Syllabus zur Unterscheidung von Kern- und Wahlkursen geführt. Zu den Kernkursen gehören Themen wie 1. die Großeltern, 2. Ethik, 3. Weltverständnis und 4. Menschen und Religion, zu den Wahlkursen: Bibel, Bibel und Kultur, ethische Beispiele, Religion und Kultur, Kirchengeschichte (70). Das für deutsche Leser sicher überraschende Kernthema 1. »die Großeltern« belegt noch einmal die Notwendigkeit der Anknüpfung bei für viele im militant atheistischen Kontext vergangenen Lebenswelten durch kollektive Erinnerung.
Ein Nachruf an Pille Valk von Anne Kull findet sich auf S. 31 f.
Anta Filipsone, Professorin für Praktische Theologie an der Universität Lettlands, schildert in ihrem Beitrag »Religious Education in Latvia and the Challenge of Religious Pluralism« (95–107) eine völlig andere Entwicklung als in Estland und betont, dass im unabhängigen Lettland 2007 30 religiöse Organisationen christlichen, jüdischen, hinduistischen, buddhistischen, muslimischen oder an­deren Hintergrunds anerkannt waren. Ein grundlegendes gesellschaftliches Problem ist die hohe Rate der Intoleranz in ethnischer, sexueller, auch rassistischer Hinsicht – ein historisch aus den Jahren nationaler Unterdrückung verständliches Phänomen (96). Das de facto gültige Curriculum für den Religionsunterricht verfolgt allerdings ein konservatives Ziel der Erziehung im christlichen Glauben in nahem Kontakt zur Kirche (97). Alle Öffnungsversuche des Religionsunterrichts werden als antikirchlich und antireligiös bekämpft. Mit der Unabhängigkeit Lettlands 1991 wa­ren je nach Interesse und Möglichkeit sehr unterschiedliche Formen von Religionsunterricht an öffentlichen Schulen entstanden, die von konfessionellen Inhalten bis zu »dievturiba«, d. h. vorchristlicher lettischer Religion, reichten. Die Kirchen erreichten schließlich 1998, dass nur fünf traditionelle Kirchen (Lutheraner, Römische Katholiken, Orthodoxe, Baptisten und Altgläubige) das Recht erhielten, Lehrer für den Religionsunterricht zu benennen. Religionsunterricht wurde in den Klassen 1–3 zum Wahlpflichtfach neben Ethik. 1999 legten die fünf Kirchen einen gemeinsamen Syllabus vor, der vor allem biblische Geschichten zugrunde legte. Die Lernziele wurden folgendermaßen formuliert: a) Wissen und Verständnis über bzw. von Gott und der von ihm eingerichteten Weltordnung zu erwerben; b) christliche Praxis in Gebet, Dienst und Gemeinschaft einzuüben und c) ein in christlichen Werten verwurzeltes Verhalten zu gestalten (100). Ein Viertel der Eltern wählt das Fach, drei Viertel entscheiden sich für die Alternative Ethik.
Filipsone vermutet nicht nur atheistische Propaganda und materialistische Orientierung als Ursache für diese Wahl, sondern auch den konservativen Ansatz des Religionsunterrichtes. Künftige Ziele sind die Ausweitung des Unterrichts auf die weiterführenden Schulen, die Überprüfung des »kerygmatischen« monologischen Profils, die Erhöhung seiner sozialen Relevanz und die Einführung interreligiöser Aspekte (105).
Beiden Beiträgen, die um je unterschiedliche Ansätze zur Wie­dereinführung des Religionsunterrichts ringen, steht nun der Beitrag von Kai Ingolf Johannessen gegenüber, der die jüngste Entwick­lung im lutherisch staatskirchlichen Norwegen schildert und die Sensibilität des Fachs Religion unter den Bedingungen liberaler und säkularer Gesellschaften zeigt: »Identity and Dialogue in Re­-ligious Education: Religious Education in the Public Schools of Norway« (75–94). 1999/2000 wurde ein neues Pflichtfach an norwegischen Schulen »Christentum, Religionen und Lebensanschauungen«, das die alten Wahlpflichtfächer »Christentum« bzw. »Orientierung über Lebensanschauungen« verbinden sollte, mit großen Hoffnungen landesweit eingeführt. Regierungskreise waren überrascht, wie sensibel religiöse Fragen auch in der postmodernen Gesellschaft waren. Die einen fürchteten um die privilegierte Stellung des Christentums in der norwegischen, die anderen befürchteten eine staatliche Verpflichtung zu religiöser bzw. christlich religiöser Praxis (77).
Wissenschaftliche Untersuchungen zur Rezeption des Faches ergaben, dass viele Schulen Predigt, Singen und Gebet, spirituelle Praxismomente überhaupt vermieden, Befreiungsmöglichkeiten von Teilelementen des Unterrichts aus praktischen Gründen nicht funktionierten, vereinzelt muslimische Schüler gegen die Verpflichtung zur Teilnahme protestierten, der atheistische human­ethische Verbund mobil machte. Norwegische Gerichte stellten sich schon vor Einführung des Unterrichts 1998 hinter das Fach, schließlich bis 2001 in drei Instanzen. 2002 sprach sich das Komitee für Menschenrechte der Vereinten Nationen gegen das Fach aus, weil es Information über Religion und religiöse Praxis nicht trennte. 2005 waren die Ratschläge der Vereinten Nationen umgesetzt, als das zwischenzeitlich angerufene Europäische Ge­richt für Menschenrechte in Straßburg das Recht der Eltern auf religiöse Erziehung der Kinder grundsätzlich verletzt sah. Eine weitere Revision des Programms führte zu einer Änderung des Namens: »Religion, Lebensanschauung und Ethik«. Christliche Inhalte waren nun in einem Maß »verdünnt«, dass wiederum christliche Eltern an der Befähigung zum Dialog durch das neue Schulfach Zweifel hatten. Angesichts der Konsequenzen im Blick auf die im Grundgesetz des norwegischen Königreichs § 2 verankerte öffentliche evangelisch-lutherische Religion dürfte die Diskussion in Norwegen noch nicht zu Ende sein. Johannessen schließt mit einem Sprichwort, dass in bester Absicht, Identität und Dialogfähigkeit zu stärken, offenbar das Pferd hinter den Karren gespannt wurde.
Ausführliche Literaturangaben am Ende der Artikel ermöglichen tieferes Eindringen in die religionspädagogische und diakoniewissenschaftliche Diskussion im Norden.