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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1365-1366

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Sedmak, Clemens [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Solidarität. Vom Wert der Gemeinschaft.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010. 322 S. 8° = Grundwerte Europas, 1. Geb. EUR 59,90. ISBN 978-3-534-20774-9.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Dieses als erster Band in der neuen Reihe »Grundwerte Europas« erschienene, von dem in London und Salzburg tätigen Sozialethiker Clemens Sedmak herausgegebene Buch umfasst 14 Aufsätze von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren zum Thema »Solidarität« angesichts einer festzustellenden gegenwärtigen Krise im Zusammenhalt Europas in der Spannung zwischen »Gemeinsamkeit und Pluralismus« sowie »Freiheit und Grenzen« (10). Neben grundsätzlichen Überlegungen zum Gesamtprojekt einer Vergewisserung von Solidarität und Identität fördernden europäischen Grundwerten in ihrer geschichtlichen Genese und Bedeutung gibt es kritische Aufarbeitungen aktueller politischer Debatten innerhalb der Europäischen Union, Problembeschreibungen und Dis­kussionen in der weiteren Perspektive über Europa hinaus (Asien; Afrika) sowie Konkretionen anhand von Beispielen aus dem Ge­sundheitswesen, der Arbeitswelt und der Wirtschaft. Einen besonderen Akzent liefert dabei der Beitrag des Stuttgarter Literaturwissenschaftlers A. Freinschlag zur Präsenz des Themas »Solidarität« in der gegenwärtigen Literatur.
Damit unterstreicht der Herausgeber mit Recht, dass über Werte wie Solidarität nur vernetzt, in Verbindung mit anderen Werten wie Toleranz, Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde, Gerechtigkeit und Frieden (die jeweils in noch folgenden Bänden der Reihe thematisiert werden sollen) reflektiert werden kann. Dazu ist ein in­terdisziplinärer Zugang, hier in der Verbindung von Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Rechts- und Politikwissenschaften, Theologie und Philosophie erforderlich. Dabei wird deutlich, dass die infrage stehenden Werte wie Solidarität letztlich nicht weltanschaulich neutral und rein funktional verstanden oder gar vom »grünen Tisch« aus (wie ein Solidaritätszuschlag) verordnet werden können. Vielmehr sind sie ihrerseits immer auf differenzierte, konkret gelebte weltanschauliche Grundüberzeugungen bezogen (12), wie sie in bestimmten, nicht unbedingt homogenen Religionen und Philosophien veränderlich Gestalt gewonnen haben.
Für Europa sind hier vor allem die antike griechische und rö­-mische Philosophie, Humanismus, Aufklärung und Romantik sowie die jüdische, christliche und islamische Religion zu bedenken. Denn: Man »entscheidet sich nicht für Werte, man entscheidet auf der Grundlage von Werten« (15), wie sie in weltanschaulichen Grundüberzeugungen gerade in den affektiven Tiefenschichten des Menschseins verankert sind. Erst hier kann Solidarität entstehen, nämlich als »Bereitschaft zu gegenseitigen Unterstützungsleistungen, die moralisch geboten, aber nicht erzwingbar sind und die über das hinausgehen, was von Rechts wegen Pflicht ist« (44).
Im Blick auf das Christentum wäre es in diesem Zusammenhang nicht nur interessant, über Solidarität aufgrund gemeinsamer Geschöpflichkeit und Gottesebenbildlichkeit, sondern auch aufgrund allgemeiner Sündenverfallenheit und Erlösungsbedürftigkeit zu sprechen. Hier sind die dogmatischen Potentiale und Traditionsbestände (nicht nur) des christlichen Glaubens und ihre gesellschaftskritischen Konsequenzen zur Begründung von Solidarität noch nicht konkret genug bedacht worden. Ansätze dazu gibt es in der gegenwärtigen liberalismus- und autonomiekritischen Kommunitarismus- und Utilitarismusdebatte da, wo deren reli­-giöse Voraussetzungen und Implikationen in den Blick genommen werden, wie z. B. bei dem von Michael Kühnlein herausgegebenen Band »Kommunitarismus und Religion« (Berlin 2010). Ob sich al­lerdings aus solchen Ethiken des Nahbereichs globale Handlungsoptionen auf der Makroebene ableiten lassen, bleibt nach wie vor fraglich (52.57). Jedenfalls sollte Solidarität dann nicht als »das Andere der Gerechtigkeit« (F. Hengsbach) verstanden werden (52), sondern eher als ihr Motiv und tragender Grund.
Insgesamt ist mit diesem Band (in dem es leider eine Reihe von störenden Druckfehlern gibt) ein vielversprechender Auftakt zur mehr als nötigen Debatte um »europäische Werte« gelungen. Die durchweg lesenswerten, informativen und engagierten Einzelbeiträge fördern auf je unterschiedliche Weise die dazu nötige Sensibilität.