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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1364-1365

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Speck, Otto

Titel/Untertitel:

Hirnforschung und Erziehung. Eine pädagogische Auseinandersetzung mit neurobiologischen Erkenntnissen.

Verlag:

München-Basel: Ernst Reinhardt Verlag 2008. 196 S. gr.8°. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-497-01959-5.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Der Heilpädagoge Otto Speck hat ein allgemein, auch ethisch, kulturphilosophisch und theologisch interessierendes Buch verfasst, das sich mit dem Verhältnis zwischen moderner, empirisch angelegter Hirnforschung und Erziehung beschäftigt. Letztlich weist es auf das Desiderat hin, den Ertrag der Hirnforschung für die Erziehungswissenschaften zu nutzen und ihre Erkenntnisse mit geis­tesgeschichtlich überlieferten, für das Erziehungsverständnis relevanten Theorien konstruktiv zu vermitteln.
In seinem ersten Teil entfaltet das Buch eine breite Grundsatzkritik an moderner Hirnforschung. S. kritisiert Schlussfolgerungen, die aus der neueren Hirnforschung für die Deutung des Menschseins gezogen wurden. Er bezieht sich dabei auf das Libet-Experiment und auf namhafte Autoren, u. a. auf W. Singer, G. Roth, J. R. Searle, M. Pauen. Kritisiert werden Tendenzen eines neuro­biologischen Reduktionismus, Selbstwidersprüchlichkeiten neuro­biologischer Theoriebildung, ihre Infragestellung der Willensfreiheit und ein naturwissenschaftlich-neurobiologisch fundiertes Menschenbild. Dessen Konsequenzen seien Ökonomismus, Perfektionismus und Utilitarismus (94 f.114.158). Durch die heutige Neurobiologie werde »das Menschenbild« in Frage gestellt, das bisher von der Pädagogik vertreten worden sei.
Diesen Überlegungen ist die Frage entgegenzuhalten, ob tatsächlich derart einlinig von »dem« herkömmlichen geisteswissenschaftlichen und pädagogischen Menschenbild – im Singular – gesprochen werden kann (vgl. z. B. 84.82.158). Streckenweise werden Hirnforschung einerseits, überlieferter geisteswissenschaftlicher Humanismus andererseits recht plakativ einander gegenübergestellt. In Seitenblicken werden ebenfalls konkrete Problemstellungen erwähnt, die aus neurobiologischer Forschung resultieren: etwa die Anwendung von Psychopharmaka bereits bei Heranwachsenden (95.104), die Option einer Optimierung der Leistungskraft des Gehirns durch neuronales enhancement (104.157) oder chirurgische Eingriffe in das Gehirn, die sich auf die mentale Befindlichkeit und die Persönlichkeit eines Menschen auswirken. S. geht auf die Tiefenhirnstimulation ein, die heute verstärkt zur Behandlung der Parkinsonkrankheit eingesetzt wird, ohne dass er aber Kriterien entfaltet, die eine genauere Abwägung zwischen dem potentiellen Nutzen des therapeutischen Eingriffs und möglichen Persönlichkeitsveränderungen gestatten. Stattdessen wird nur allgemein die Gefahr betont, derartige Handlungsoptionen könnten für missbräuchliche Zwecke eingesetzt und Menschen könnten in ihrem Verhalten von außen steuerbar werden (157). Die Fragestellungen bedürfen zweifellos der ethischen, pädagogischen und ge­gebenenfalls auch der gesundheits- und rechtspolitischen Aufarbeitung. Jedoch sind Vertiefungen in der Darstellung und in der Einzelabwägung erforderlich, die über die allgemein gehaltenen Problemhinweise des Buches hinausgehen.
Einen anderen Akzent setzen Gedankengänge, die sich vor allem in der zweiten Hälfte des Buches finden. Gegenläufig zur pointierten Kritik an der Hirnforschung, die im ersten Teil erfolgt, werden hier Anknüpfungspunkte genannt. Von Interesse seien neurobiologische Einsichten, die die Plastizität, Entwicklungsfähigkeit, Sozial- und Umweltbezogenheit des individuellen Gehirns betreffen. Aus ihnen könnten sich auch für die Pädagogik neue Chancen eröffnen (102). Ein kleineres Kapitel fragt deshalb, ob und wie die »menschliche Natur« – hier: das Gehirn – als »pädagogische Orientierungsgröße« gelten kann (161–166). S. erkennt an, dass neurologische Forschung einen diagnostischen Sinn besitzt und z. B. zum verbesserten Verständnis von Störungen oder Krankheiten wie Autismus beiträgt. Sie habe auch einen therapeutischen Nutzen; dies zeige sich an den Cochlea-Implantaten für gehörlose Kinder (181). Insofern setzt das Buch doch noch den Impuls, solche Punkte, die sich im Schnittfeld von Hirnforschung, Ethik und Pädagogik ergeben, genauer zu erschließen und ihren Stellenwert konzeptionell zu durchdenken.
Leider enthält das Buch nur ein Begriffs-, aber kein Personenregister. Daher erschließt sich nicht sofort, auf welche Autoren im Einzelnen Bezug genommen wird. Hans Jonas wird irrtümlich mit dem Namen Bruno Jonas erwähnt (106; vgl. auch die Angabe im Literaturverzeichnis).