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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1362-1363

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rehm, Johannes, u. Hans G. Ulrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Menschenrecht auf Arbeit? Sozialethische Perspektiven. M. Beiträgen v. H.-J. Bontrup, H. Ch. Brennecke, Ch. Butterwegge, F. Hengsbach, F. Prast, F. Segbers, H. G. Ulrich, G. Wegner.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 205 S. gr.8°. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-17-020823-0.

Rezensent:

Torsten Meireis

Der Sammelband, der auf eine Ringvorlesung an der Universität Erlangen zurückgeht, behandelt ein Thema, um das es nicht in der gesellschaftlichen Debatte, aber in der theologischen Landschaft still geworden ist. Bereits ein kurzer Blick in die Medien lässt an den Debatten um Mindestlöhne, Leiharbeit, Prekarisierung, Arbeitsmigration oder die weibliche Erwerbs- und die männliche Familienarbeitsbeteiligung erkennen, dass hier Reflexionsbedarf be­steht. Schon aus diesem Grund darf dieser Sammelband als verdienstvoll gelten.
Franz Segbers erläutert in seinem biblischen Impulsen gewidmeten Beitrag, dass trotz der großen Unterschiede in Konzeptualisierung und Realität der Arbeit schon zu biblischer Zeit eine Reihe sozialer Vorstellungen entwickelt worden seien, die aktuell Bedeutung gewinnen könnten: Segbers nennt die Idee der Genüge, die Parteinahme für Arbeitende oder interpretiert den Sabbat als utopisches Symbol autonomen statt heteronomen Handelns.
Franz Prast, stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsagentur Bayern, schildert unter der Prämisse, dass jede Erwerbsarbeit besser sei als Arbeitslosigkeit, den Arbeitsmarktreformprozess im Rechtskreis SGB II als Erfolgsgeschichte, weil die Zahl der Arbeitslosen effektiv verringert worden sei. Allerdings bleiben dabei die Schattenseiten einer Sicht, die Arbeitslosigkeit vorrangig als Problem individueller Bereitschaft und Befähigung thematisiert, ebenso ausgeblendet wie die Probleme der Zunahme prekärer Beschäftigung. Die Gegenperspektive zum Beitrag von Prast liefert Christoph Butterwegge, der anhand einer Parallelisierung mit der Sozialpolitik der Weimarer Republik die These vertritt, die sog. Hartz-Reformen seien Ausdruck einer problematischen Verschiebung im Gerechtigkeitsbegriff und letztlich für den Anstieg der Armut verantwortlich, indem man die Transfers an Langzeitarbeitslose massiv gekürzt habe und damit einer Ausweitung des Niedriglohnsektors Vorschub leiste. An diese Sicht schließt auch der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-J. Bontrup an, der seine Darstellung der Wirtschaftspolitik unter die Leitdifferenz von Keynesianismus und Neoliberalismus stellt. Er beschreibt die historische Entwicklung und sucht als Alternative zum Konzept des Neoliberalismus das der Wirtschaftsdemokratie zu etablieren, weil nur so die überdimensionierte Gestaltungsmacht der Kapitalbesitzer zugunsten der Arbeitnehmer zu relativieren sei.
Der Kirchengeschichtler Hanns Christof Brennecke analysiert das Verhältnis von Kirche und Arbeiterschaft im 19. Jh. Er orientiert sich unter anderem an Memoirenliteratur, um die These zu erhärten, dass die kirchlichen Eliten das Milieu der Arbeiter nicht als eigene Kultur, sondern lediglich als Abweichung von einem bürgerlichen Habitus wahrnehmen konnten und von der Stadtentwicklung im Zuge der Industrialisierung geradezu überrollt worden seien. Gegen eine moralisierende Deutung des kirchlichen Versagens im 19. Jh. stellt er die skeptische Frage nach den Transformationsfähigkeiten des aktuellen Protestantismus.
Systematisch sucht Hans G. Ulrich in seinem Beitrag umfassende normative Konsequenzen seines sehr weiten, anthropologisch ausgerichteten Arbeitsbegriffs zu klären, zu denen ein Recht auf Arbeit, ein Recht auf Wertschätzung, soziale Sicherung, Lebenssinn, die Berücksichtigung von Arbeiten jenseits des Erwerbskontexts und eine globale Perspektive zählen. Freilich ergibt sich durch die Fassung der Begriffe eine gewisse Unschärfe. So macht etwa die von Ulrich gebotene »Grundregel …, dass ein Mensch durch seine Arbeit für sein Leben und für die ihm anvertrauten Menschen sorgen können muss« (132) nicht deutlich, welche Tätigkeit hier eigentlich von der Prädikation der Arbeit ausgeschlossen bleibt, welchen Lebensstandard diese Sorge impliziert und welche Relation das Anvertrautsein bezeichnet. Die normativ hochgestimmte Ausarbeitung (»Wo Armut auftritt, ist jede Normalität längst verlassen«, 133) entspricht dabei einem schöpfungstheologisch entwickelten, hier freilich sehr abstrakt bleibenden Gerechtigkeitsbegriff (141).
Sehr konkret richtet demgegenüber Friedhelm Hengsbach den Blick auf die Realitäten der Erwerbsarbeit. Er erörtert die rechtlichen Möglichkeiten einer verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des bisher eher moralisch zu nennenden Rechts auf Erwerbsarbeit, nennt Einwände, sucht es naturrechtlich zu begründen und stellt gesellschaftliche Bedingungen eines solchen Rechts dar, um sich schließlich gegen einen subjektiv-öffentlichen Rechtsanspruch, aber für eine objektive Verfassungsnorm auszusprechen (184).
Gerhard Wegner schließlich reflektiert auf die habitusspezifische Differenz zwischen den gemeindlichen Kerngruppen und den Angehörigen derjenigen Milieus, die sich aus dem klassischen Arbeitermilieu speisen. Er beschreibt die Differenz mit Tillich als nach wie vor aktuellen Konflikt zwischen einem humanistischen Persönlichkeitsideal und einer stärker materialistischen Ausrichtung, der dringend der Reflexion bedürfe.
Die eindrückliche Breite des Themenspektrums, die der Band auffächert, bringt zuweilen den Nachteil einer teils erheblichen Flughöhe mit sich, die konkrete Fragen wie die nach Mindestlöhnen, Problemen atypischer Beschäftigung oder geschlechtergerechter Partizipation an Erwerbs- und Familienarbeit leicht aus dem Blick zu verlieren droht. Auch, aber nicht nur angesichts dieses Befundes fällt auf, dass sich unter den Beitragenden keine Autorin findet. Worauf sich ein ›Menschenrecht auf Arbeit‹ konkret richten und wie es rechtlich und politisch implementiert werden könnte, steht so auch nur in einem Beitrag zur Diskussion, der Arbeit freilich konsequent auf Erwerbsarbeit engführt. All dies mindert freilich die Bedeutung des Bandes nicht, der eine dringend notwendige theologische und kirchliche Debatte neu eröffnet und so uneingeschränkt empfehlenswert ist.