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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1358-1359

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Meier, Albert, Costazza, Alessandro, u. Gérard Laudin[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Hrsg. unter Mitwirkung v. S. Düsterhöft u. M. Schwalm. Bd. 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2011. 271 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-021780-3.

Rezensent:

Markus Buntfuß

Seit Friedrich Schleiermacher in seinen Reden Ueber die Religion die beiden Schwestern Kunst und Religion ›wie zwei befreundete Seelen‹ in Beziehung zueinander und damit in ein ästhetisch-religionstheoretisches Reflexionsverhältnis gesetzt hat, durchzieht der Begriff der »Kunstreligion« den neuzeitlichen Diskurs über ästhetische und religiöse Themen und wirft die Frage auf, welche gedankliche Konzeption diesem Neologismus zugrunde liegt.
Geht es dabei – entsprechend der Säkularisierungsthese – um die Ersetzung der Religion durch die Kunst oder handelt es sich – entsprechend der Individualisierungsthese – um eine Umformung der konfessionell-kirchlichen in eine ästhetische Privatreligion für Gebildete? Beruht das Konzept der Kunstreligion auf einer funktionalen Substitution oder einer semantischen Interaktion zwischen ausdifferenzierten Kultursphären? Welcher Unterschied besteht außerdem zwischen einer Kunstreligion im strikten Sinne und einem ästhetischen Religionsverständnis bzw. einem religiösen Kunstverständnis? Und kann der Begriff Kunstreligion überhaupt im Sinne einer Definition rekonstruiert werden oder firmiert er eher als Chiffre für eine geschichtsphilosophische (Re)-Vision – so wenn Schleiermacher sie in den Reden noch gar nicht recht erkennt, während sie Hegel in seiner Phänomenologie des Geis­tes für gar nicht mehr existent hält.
Diesen und weitergehenden Fragen hat sich eine trilaterale Forschungskonferenz zum Thema Kunstreligion verschrieben, die ihre Treffen sehr passend am Deutsch-Italienischen Zentrum für europäische Exzellenz der Villa Vigoni in Loveno di Menaggio durchführt. Literaturwissenschaftler und Philosophiehistoriker – leider und zum Schaden des Themas keine Theologen! – aus Deutschland, Frankreich und Italien haben es sich zum Ziel gesetzt, den Begriff und seine Entfaltung an drei historischen Schnittstellen zu untersuchen: ›Um 1800‹ (Formulierung des Konzepts) – ›Um 1900‹ (Entfaltung des Konzepts) und ›Um 2000‹ (Aktualität des Konzepts). Sie folgen damit der erfolgreichen Projektidee von Wolfgang Braungart und anderen, die sich vor einem Jahrzehnt auf drei Tagungen mit ästhetischen und religiösen Erfahrungen der Jahrhundertwenden befasst haben, deren Beiträge von 1997–2000 in drei Bänden publiziert worden sind.
Die ersten Ergebnisse der Forschungskonferenz Kunstreligion liegen inzwischen in dem anzuzeigenden Band vor und spiegeln in 16 meist kürzeren Beiträgen eine große Bandbreite an Sondierungen. So werden kunstreligiöse Vorstellungen und Schreibverfahren bei Schleiermacher und Hegel, Goethe und Zinzendorf, Baumgarten und Kant, Hamann und Hölderlin, Novalis und Brentano, Wackenroder und Hoffmann sowie bei Alfieri und Manzoni untersucht.
Angesichts der Vielzahl von verhandelten Autoren und Werken können die damit zusammenhängenden religionstheoretischen und ästhetischen Fragen freilich oft nur angerissen oder in geraffter Form präsentiert werden. Wo systematische Fragestellungen bearbeitet werden, folgt die Mehrheit der Beiträge überraschenderweise dem in die Jahre gekommenen Säkularisierungstheorem, wonach es sich bei dem Konzept der Kunstreligion um eine Substituierung der Religion durch die Kunst vor dem Hintergrund ihrer funktionalen Ausdifferenzierung seit der Mitte des 18. Jh.s handelt. Eine Alternative schlägt Stefanie Buchenau vor, die den Erfolg der Kunstreligion als Ausdruck einer Krise der philosophischen Vernunftabstraktion liest und den subversiven Aufstieg der Ästhetik im Ensemble der philosophischen Disziplinen rekonstruiert. In vergleichbarer Weise entdeckt auch Bernd Auerochs den Hintergrund der Kunstreligion in der philosophischen Allegorese von Religion und Poesie in Gestalt einer twofold philosophy seit John Toland, die in der exoterischen anschaulichen Funktion von Religion und Poesie ein Propädeutikum zur esoterischen reinen Wahrheitserkenntnis sieht. In diesen Kontext fügt sich schließlich auch gut die These von Alessandro Costazza, der den Zusammenhang des Konzeptes einer Kunstreligion als ästhetische Erkenntnis mit der Idee einer – zunächst Gott vorbehaltenen – intellektuellen An­schauungskraft herausarbeitet, die intuitiven Ganzheitscharakter hat. Somit wird auch die Idee der Gottähnlichkeit der ästhetischen Erkenntnis als intuitiver und ganzheitlicher Erkenntnis als Grund der Idee der Gottgleichheit des Künstlers erkennbar.
Neben diesen innovativen Perspektiven auf das dichte Geflecht von Kunst, Religion und Philosophie um 1800 wartet der Band – wie bereits angedeutet – auch mit überholten Thesen zur neuzeitlichen Transformation der Religion auf. Vor allem angesichts der Tatsache, dass die meisten Autorinnen und Autoren ihren Zugriff aufs Thema im Rückgang auf Schleiermachers Verständnis des Verhältnisses von Kunst und Religion entwickeln, ist es nicht nur bedauerlich, sondern ein beträchtliches sachliches Defizit, dass kein theologischer Schleiermacherforscher zu den Konsultationen hinzugezogen worden ist. So hätte etwa die Behauptung, Schleiermacher sei es in den Reden Ueber die Religion noch ganz auf eine Religion in der Tradition protestantischer Kirchlichkeit angekommen (Heinrich Detering, 19), im Hinblick auf die wichtigste Werbeschrift für eine freie und private Religion außerhalb der Kirche um 1800 schon auf der Tagung diskutiert und als Fehlurteil erkannt werden können.