Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1356-1358

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lauster, Jörg, u. Bernd Oberdorfer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Gott der Vernunft. Protestantismus und vernünftiger Gottesgedanke.

Verlag:

Tü­bingen: Mohr Siebeck 2009. XIII, 346 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 41. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-150202-6.

Rezensent:

J. Christine Janowski

Dieser Sammelband, der Jan Rohls (wohl zum 60. Geburtstag) gewidmet ist, will vertiefende Schlaglichter auf die Geschichte des abendländischen Gottesgedankens im Spannungsfeld von Philosophie und Theologie werfen, die vom Geehrten umfassend beschrieben wurde – und zwar mit der systematischen Pointe, dass die Philosophie auch als Metaphysik »weiterhin von zentraler Bedeutung für die Theologie« sein wird, »da die Übersetzung religiöser Gedanken in das Medium der Vernunft nicht als eine erledigte Aufgabe betrachtet werden kann«, und dass umgekehrt »die Theologie die Philosophie stets daran erinnert, dass ihre Aufgabe die Thematisierung oberster Prinzipien impliziert und sie ohne Metaphysik ein Torso bleibt (ders., Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart«, Tübingen 2002, Vorwort; vgl. unter Rekurs auch auf die Religionsphilosophie: 582).
Insbesondere hat sich der Sammelband das Ziel gesetzt, die verbreitete Einschätzung, dass dieser »›Gott der Vernunft‹ im Protes­tantismus keine Heimat« hat bzw. – das ist an sich nicht dasselbe – »sich grundsätzlich von der Aufgabe einer denkerischen Verantwortung des Gottesverständnisses verabschiedet« habe, als Vorurteil zu erweisen; dies obwohl – wie die Herausgeber selbst sogleich signalisieren – solche Einschätzung durchaus nicht einfach einer opinio communis entspricht (Vorwort). Da die Beiträge dieses Bandes sämtlich aus protestantischer Feder stammen, aber zum Teil auch Vorreformatorischem, Islamischem und Orthodoxem, dazu durchaus nicht nur protestantischen Theologen, sondern auch G. B. Vico, G. E. Lessing, I. Kant und G. Simmel gewidmet sind, spiegelt sich in den sämtlich historischen Rückbezügen das bleibende systematische protestantische Interesse an einem ›vernünftigen Gottesgedanken‹ (Untertitel) in seinen seit der Alten Kirche durchaus pluralen bis heterogenen Gestalten.
Dem entspricht hier gemäß dem Inhaltsverzeichnis: Teil I: »Bibel – Platon – Aristoteles: Die Formierung des abendländischen Gottesverständnisses« enthält Beiträge zu Qohelet 5,1 (M. Arneth), zur Bedeutung des Platonismus für das christliche Gottesverständnis am Beispiel von Origenes, Nikolaus von Kues und M. Ficino (J. Lauster) sowie zur rationalen und suprarationalen Gotteslehre in der »Summa contra gentiles« des Thomas von Aquin (G. Wenz). Teil II: »Der reformatorische Ansatz und seine schuldogmatische Rezeption« bringt Beiträge zur »Ehre der Hure« (der Vernunft) bzw. zum vernünftigen Gottesgedanken in der Reformation (Th. Kaufmann) und zur Umformung der Gotteslehre in der lutherischen Theologie der Frühaufklärung (Fr. Nüssel). Teil III: »Aufgeklärte Übergänge« enthält Beiträge zu G. Vico’s Theological Imagination (D. Hedley), zu Lessings Bedeutung für Aufstieg und Krise des Gottes der Vernunft im Zeitalter der Aufklärung (B. Oberdorfer) sowie zu Innerisla­mischem und seinen protestantischen Deutungen unter dem Titel »An der Wiege der islamischen Vernunft« (D. Klein). Teil IV: »Kant und die Folgen« besteht aus Beiträgen zu Vernunft, Religion und dem Gottesgedanken bei Kant (J. Dierken), zur Frage »Was heißt ›Vernunft der Religion‹?« im Sinne subjektphilosophischer, kulturtheoretischer und religionswissenschaftlicher Erwägungen im Anschluss an Schleiermacher (U. Barth), zur trintitätstheologischen Umformung der Dogmatik in den theologischen Schulen Schleiermachers und Hegels (Fr. Voigt) sowie über den Gottesgedanken bei D. F. Strauß (M. Laube). Teil V: »Nachmetaphysische Reformulierungen« bringt Beiträge zum unvollendeten Abschied von der Metaphysik bei W. Herrmann (D. Korsch) und zu G. Simmels nach-theistischem Gottesbegriff (M. Buntfuß). Teil VI: »Die Vernunft der Offenbarung« enthält einen Beitrag zur orthodoxen Theologie und Kirchengeschichtschreibung, in dem es um die innerorthodoxe Debatte des Problems geht, ob die Hellenisierung des Christentums eine Epoche oder (normative) Erfüllung der Kirchengeschichte ist (D. Wendebourg), ferner zum Gott der Vernunft und der Offenbarung, der sich speziell auf das Verhältnis von Sprache und Geschichte bei P. Tillich bezieht (J. Ringleben), sowie zum Verhältnis von vernünftigem (philosophisch-metaphysischem) und theologischem Gottesgedanken bei J. Rohls’ Lehrer W. Pannenberg (Chr. Axt-Piscalar).
Wie dieser Überblick zeigt, handelt es sich bei diesem Sammelband um eine auch interdisziplinär bedeutsame Fundgrube. Das gilt m. E. besonders für die Beiträge von Hedley zu Vico, von Klein zur Wiege der islamischen Vernunft und von Buntfuß zu Simmels Gottesbegriff. Dazu einige knappe Bemerkungen:
Vico wird von Hedley als erratischer und exzentrischer Platoniker in den Spuren Ficinos herausgestellt, der – mit Analogien bei Fr. Creutzer und C. G. Jung – von der metaphysischen Bedeutung von ›imaginativen Universalien‹ (vgl. Mythen) und einer ›poetischen Logik‹ ausgeht und in Kritik am ›Barbarismus der Reflexion‹ und einer entsprechenden Arroganz der bzw. einer spezifischen Gestalt von Vernunft als anthropologischem Kardinalirrtum der ihm vorgängigen modernen Philosophen für einen ›poetischen Humanismus‹ christlich mitbestimmter Art eintritt und für eine eben auch philosophische Bedeutung der nicht linear fortschrittlich verstandenen Geschichte gut steht. Dass Vico damit zwischen Aufklärung und Idealismus (vgl. Obertitel des Aufsatzes) steht, ist sicherlich richtig. Doch zugleich wird vermerkt, dass er mit seinem Geschichts- und Vorsehungsverständnis auch auf Theoriekonstellationen des 20. Jh.s vorverweist und im Übrigen quer liegt auch zur nachreformatorischen, neuscholastischen Orthodoxie protes­tantischer wie katholischer Provenienz.
Klein erinnert an die aus heutiger Perspektive sonderbar anmutende Hochschätzung des Islams in der theologischen Aufklärung des 18. Jh.s als der toleranten und vernünftigen Urreligion des Ostens bzw. der historischen Realisierung des ursprünglichen, vernünftigen Monotheismus, um herauszuarbeiten, dass diese Hochschätzung sich in der vorwiegend protestantisch geprägten Orientalistik des 17. Jh.s gerade nicht auf den Koran, sondern auf eine islamische Lehrrichtung des 8. Jh.s bezieht, über deren Fundamentalartikel ein asaritischer Theologe im 12. Jh. in seinem häresiologischen Überblick berichtet. Der anschließende Durchgang durch Standardwerke, die sich im protestantischen Europa seit dem 17. Jh. mit diesem Überblick und speziell mit der entsprechenden Sekte beschäftigen, erweist mit großer Subtilität kritisch insbesondere, dass diese Sekte im Interesse lutherischer Apologetik vom Einfluss griechischer Philosophie her verstanden wurde, von einer gescheiterten islamischen Aufklärung gesprochen und der Islam als eine bloße Verstandes- und Gesetzesreligion eingeschätzt wurde, der dem Christentum ebenso wie dem Judentum überlegen sei.
Buntfuß konzentriert sich besonders auf Simmels »Die Religion« (1. Aufl. 1906), um dessen dortige Religionskonzeption so­wohl in ihrer Nähe zu Schleiermachers Religionsschrift als auch in ihrer Eigenart herauszustellen, zu der die Strukturanalogie von Mu­sikalität und Religiosität ebenso gehört wie eine abgelei­-tete symbolische (Einheits- und Sittlichkeits-)Funktion des mo­-notheis­tischen Gottesgedankens, um anschließend anhand der Schrift »Das Heil der Seele« (1902) an Simmels These vom in der Tradition verdrängten »Individualismus des christlichen Heilsbegriffs« und dessen zentrale Funktion für das moderne Christentum bzw. die moderne Religion zu erinnern.
Die Beiträge der Systematiker und Systematikerinnen in diesem Band sind – abgesehen von denen von Wenz, Laube und Voigt – alle mit systematischen Selbstpositionierungen unterschiedlicher Art verbunden. Das gilt z. B. für Lausters Fasziniertheit von Ficinos ästhetischer Ausweitung des Gnadenbegriffs, angesichts dessen das »juridisch-forensische Gnadengezänk zwischen Scholastik und Reformation … klein und eng« wirkt (30), für Korschs kritischen bis ironischen Umgang mit der Rede vom Abschied von der Metaphysik aufgrund eines weiteren Metaphysikbegriffs und in Erinnerung an seinen Lehrer H.-G. Geyer (253 ff.; bes. 263 ff.) sowie für Ringlebens These vom auch (offenbarungs-)theologisch relevanten, geschichtlich bestimmten inneren Zusammenhang von Vernunft und Sprache unter Rekurs auf W. v. Humboldt (309 ff.). Es gilt besonders für Barths Anknüpfung an G. Wobbermins Devise »Zu­rück zu Schleiermacher – und dann vorwärts«, hier unter den Stichworten: deutungstheoretischer Religionsbegriff, transzendentalkritischer Symbolbegriff und religionswissenschaftliche Beschreibung textueller Erinnerungskultur (vgl. Bibel), die den gesamten Aufbau der Dogmatik verändern (214 f.; vgl. 200 ff.), verbunden mit der erneuten These: »Eine offenbarungstheologische Überwindung Schleiermachers wäre das Letzte, was wir heute gebrauchen können« (215). Das aber widerspricht z. B. Axt-Piscalars Vorstellungen von vernünftiger Theologie – unter der Voraussetzung, dass die Torheit, von der Paulus in 1Kor 1,18 spricht, der Vernunft zu denken gibt (330, Anm. 31).
Die Beiträge sind sämtlich sehr dicht, gelegentlich geradezu elegant und im Falle Wendebourgs mit einer Prise theologischen Humors geschrieben. Im insgesamt recht bunten Blumenstrauß des Sammelbandes vermisse ich eine stärkere Betonung der hermeneutischen Vernunft, in metaphysischer Hinsicht Hinweise auf amerikanische Prozessphilosophie sowie auf Ch. S. Peirce samt den entsprechenden theologischen Rezeptionen auch innerdeutscher Art sowie in sachlicher und zugleich existentieller Hinsicht nicht zuletzt Hinweise auf das schwierige, auch biblisch präsente Theodizeeproblem und seine »vernünftigen« Bearbeitungen seit im­merhin schon Platon.
Ansonsten sind die Beiträge leider im Blick auf die Zitationsweise und die zusätzlichen Literaturhinweise nicht einheitlich.