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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1351-1354

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Achtner, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Willensfreiheit in Theologie und Neurowissenschaften. Ein historisch-systematischer Wegweiser.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010. 288 S. gr.8°. Geb. EUR 59,90. ISBN 978-3-534-23508-7.

Rezensent:

Andreas Klein

Das Buch will einen Beitrag in der gegenwärtig immer noch hitzig diskutierten Frage nach der Willensfreiheit des Menschen leisten. Dabei untergliedert es sich in einen historischen und in einen systematischen Teil, wobei der historische Teil fast ausschließlich theologischen Problemstellungen gewidmet ist, während das Ge­spräch mit den Neurowissenschaften erst im fünften Punkt des systematischen Teiles Einzug hält. Einige gedrängte philosophische Überlegungen finden sich eingestreut im (historischen) Fortgang zur Reformation (195–201) und vereinzelt im systematischen Teil (221 ff.). Es überrascht, dass der aktuellen, intensiv geführten philosophischen Debatte kaum Rechnung getragen wird. Entsprechend finden sich auch im Literaturverzeichnis kaum entsprechende Angaben. Diese Absenz scheint jedoch geradezu ein Charakteristikum gegenwärtiger (protestantischer) Theologie im Blick auf die Willensfreiheitsdebatte zu sein. Fast die gesamte analytische Philosophie und die neueren deutschsprachigen Freiheitsentwürfe werden übergangen. Dieses Vorgehen halte ich für problematisch, da sich die theologische Willensfreiheitsdebatte nur zum eigenen Schaden von dieser breiten Diskussionslage dispensieren kann.
Die historische Abteilung geht nach einem kurzen Überblick über antike philosophische Willenskonzepte zu einer Darstellung des Willens in der biblischen Anthropologie (26–49) über. Als Ergebnis wird festgehalten, dass das Alte Testament weitgehend an einer handlungsorientierten Anthropologie und damit an Ethik orientiert ist (48 f.). Gleichwohl wird auch die Erfahrung von Ohnmacht thematisiert, so dass sogar (wie in der Apokalyptik) das eigenständige Handeln überhaupt zugunsten eines deterministischen Zu­sam­menhangs in den Hintergrund treten kann. Im Neuen Testament lassen sich für den Vf. zwei Linien verfolgen, eine handlungsorientierte Willensbetrachtung mit ethischer Zuspitzung und – vor allem bei Paulus und Johannes – die Erfahrung der Differenz zwischen Wollen und Können. Ob nun aber Röm 7 als die »Ge- burts­urkunde des Willensbegriffs in der abendländischen Geistesgeschichte betrachtet werden« (49) muss, kann angefragt werden. Der Vf. weist selbst darauf hin, dass gerade Paulus in der nachfolgenden patristischen Tradition »kaum eine Rolle spielt« (49).
In einem weiteren Schritt rekonstruiert der Vf. zentrale Positionen der Kirchenväter (50–91) und der Scholastik (92–136), welche in ihren unterschiedlichen und verschiedenartigen Ausdifferenzierungen auch für die weitere Entwicklung prägend bleiben. Wird einerseits das eigene Tätigkeitsein und die Entscheidungsfreiheit trotz Sündenfall hervorgehoben (östliche Tradition) mit der Gefahr des Synergismus, so andererseits ab dem späteren Augustinus die starke Betonung der Rechtfertigung durch Gnade (westliche Tradition); dies wird vom frühen Mönchtum jedoch gerade kritisiert. Sowohl die mystische Tradition als auch William von Ockham mit seiner Tendenz zur Betonung der Unabhängigkeit und Autonomie und die thomistische Tradition bildeten das weitere Interpretationsgerüst.
Den abschließenden Teil des historischen Abschnittes bildet eine Darstellung der reformatorischen (137–193) und eine sehr knappe Rekonstruktion nachreformatorischer Theologie und Phi­losophie (194–205). In der Theologie Luthers laufen die unterschied­lichen Willensmodelle zusammen, werden aber einer tiefgreifenden Umformung unterzogen, und zwar ausgerichtet an einer streng theologischen Anthropologie, an der »jede metaphy­sische Einbettung einer Anthropologie … zerbricht« (160). Freilich kann man fragen, ob Luther tatsächlich eine so radikale Durchführung vorgenommen hat, auch wenn er selbst dies immer wieder betont. Jedenfalls ist ja zu fragen, wie das Verhältnis zwischen rein theologischer und philosophischer Anthropologie gedacht werden soll. Dies bestätigt auch die Darstellung der Argumentation Lu­thers gegenüber Erasmus, wo der Vf. sechs Merkmale der Unfreiheit des Willens namhaft macht (171), die durchaus in einen philosophischen Rahmen eingezeichnet werden können. Luther wendet sich damit gegen ein libertarisches Freiheitsverständnis, wie er es bei Erasmus antrifft (»Folglich existiert auch keine Willensfreiheit im Sinne der Folgerungen des Erasmus«: 174). M. E. zu Recht schreibt der Vf. Luther einen »metaphysischen Determinismus« (179) zu und damit eine strikte Lesart der Prädestination – als Ge­genstück der Rechtfertigung allein aus Gnade (175). Einen neutralen und ungebundenen und somit quasi selbst absoluten Ort im Menschen, nämlich den so verstandenen freien Willen, der auch die eigenen zentralen Bestimmungen eigenmächtig zu entscheiden erlaube, kann es nicht geben. Der Wille ist stets ein gebundener und bestimmter Wille (sowohl soteriologisch als auch anthropo­logisch-weltlich), ohne dass dadurch die Selbstbestimmung des Menschen (und seine Willensfreiheit) untergraben würde (171 f.). Insofern lässt sich Luther, wie der Vf. wohl zu Recht schreibt, als Kompatibilist charakterisieren (180).
Gleichwohl erscheint die gesamte Darstellung recht harmonisierend, insofern der Vf. auf Tretminen, die in Luthers Texten reichlich vorliegen, kaum entsprechend eingeht und die immerhin von zahlreichen Autoren für äußerst problematisch oder nicht nachvollziehbar betrachtet werden. Endliche oder bedingte Freiheit lässt sich auch ohne derartige Spitzenaussagen formulieren. Dies gilt auch für die Unterscheidung zwischen deus revelatus und deus absconditus (179, nicht abscondidus!), die der Vf. äußerst knapp auseinanderfaltet, ohne die hier inhärenten Schwierigkeiten eigens zu thematisieren.
Die nachreformatorische Philosophie (194–201) wird vom Vf. primär an Kierkegaard exemplifiziert, wohingegen Kant und Schlei­ermacher äußerst knapp dargestellt werden (William James lediglich in sechs Zeilen). Dies erscheint dann doch etwas zu spärlich. Bei Kierkegaard ist es vor allem der anthropological turn mit dem zentralen Moment der Verzweiflung, in welcher das Selbst in eine Unabgeschlossenheit und innere Divergenz (»Zwiespältigkeit des Geistes«: 199) gestellt ist, was auch für aktuelle Freiheitsentwürfe Anschlussfähigkeiten bereitstellt. Zur Einheit der Differenzen und damit zur Beendigung der Verzweiflung gelangt der Geist nur kraft Anerkennung der Transzendenz, indem der Mensch seine eigene Endlichkeit im Glauben anerkennt und sich somit selbst durchsichtig wird. Die englischen Empiristen finden hier keine Erwähnung, sondern erst recht kurz an späterer Stelle (Punkt 5 des systematischen Teils), obgleich doch gerade sie wichtige Beiträge für die Debatte lieferten. Auch die theologischen Positionen von Barth, Brunner, Gogarten und Iwand werden nur sehr knapp und umrissartig dargestellt (202–205; Barth lediglich in einem Einleitungsabsatz).
Der systematische Teil der Arbeit beginnt mit einer Typisierung von Konzepten christlicher Willens(un)freiheit (208 f.), welche bereits die historische Darstellung leitete und der nun eine dreistufige entwicklungspsychologische Typisierung im Sinne einer Entwicklung des Ich zur Seite gestellt wird. Dabei versucht der Vf., eine Vermittlungsposition zu formulieren, die auch angesichts der neurowissenschaftlichen Problematisierungen von Willensfreiheit aufrecht erhalten werden kann, und zwar ein letztlich »anthropolo­gisches Grundmodell«, welches »den Willensbegriff zugunsten eines systematisch verstandenen Personenbegriffs« aufgibt (11). Die größten Freiheitsgrade – und darum geht es dem Vf. (219 u. ö.) – ergeben sich dort, wo die Ausbildung eines transautonomen Ich gelingt, welches sich in der Selbstentäußerung auf neue Weise gewinnt. Freiheitsgrade sind aber etwas anderes als Willensfreiheit, da Letztere binär codiert ist (ja oder nein) und man lediglich fragen kann, ob gewisse Merkmale die Zuschreibung von Willensfreiheit gestatten. Diese freilich kann sich dann in unterschiedlichen Ausprägungen realisieren. Fraglich ist aber auch, ob mehr Komplexität mehr Freiheit gestattet. Insofern erscheint auch die Aussage problematisch, dass der Mensch dann frei wird, wenn er »eine möglichst hohe Integrationsebene der Person verwirklicht« (254).
In der Folge werden die Übergänge zur aktuellen Diskussion, die insbesondere durch die Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaften gekennzeichnet ist, skizziert. Erfreulicherweise spricht sich der Vf. dafür aus, dass aus der Quantenmechanik (und ihrem scheinbaren Indeterminismus) wohl kaum Kapital für das Willensfreiheitsthema geschlagen werden kann (226). Gleichwohl bleibt eine grundlegende Frage die nach der Vereinbarkeit von Determinismus und Willensfreiheit. In besonderer Weise bemüht sich der Vf. darum, einen theo­logischen Anschluss an die Neurowissenschaften herzustellen mit dem Ziel wechselseitiger Befruchtung. Die Libetexperimente geben für den Vf., mit Ausnahme der von Libet und anderen be-haupteten Veto-Funktion des Bewusstseins, jedoch zurecht wenig her. Nicht zutreffend erscheint mir jedoch, warum allein schon diese Funktion einen »reinen Determinismus« unmöglich machen soll. Auf die breit aufgestellte neurophilosophische Debatte geht der Vf. überraschenderweise kaum ein, obwohl dort profunde Argumente gegen be­stimmte neurowissenschaftliche Prämissen erarbeitet wurden. Anschlussfähig und weiterführend erscheint dem Vf. das Konzept von Thomas Fuchs, welcher versucht, das Willensfreiheitsproblem aus seiner Engführung zu befreien, hin zu einem integralen Modell. Dieses Modell wird vom Vf. um weitere soziale Aspekte erweitert (mit einem Rekurs auf die Soziobiologie) und schließlich zu einem integral-dynamisch-personalen Willensfreiheitskonzept gebündelt, welches abschließend in seinen groben Konturen skizziert wird (219ff.; bes. 251 ff.).
Nicht folgen kann ich dem Vf. in seiner Einschätzung naturalistischer Positionen, welche letztlich aus innerem Systemzwang die »Elimination des Subjekts und also des Personalen« exekutieren müssen (224). Ebenso leuchtet die Einführung unterschiedlicher Kausalitäten im Blick auf personale Fähigkeiten nicht unmittelbar ein, will man nicht die breit geführte Kausalitätsdebatte durch Erfindungsreichtum und Unklarheiten belasten. Warum aber nur bei linearer (gewöhnlicher) Kausalität »strenge Kausalität« walten soll, irritiert, da jede Kausalität »streng« ist, auch wenn sie nicht immer in einfacher Weise rekonstruierbar ist. Interessant ist auch, dass der Vf. bei der Verkoppelung von Mystik und Neurobiologie auf bekannte Arbeiten zur sog. Neurotheologie nicht eingeht, obwohl der Vf. zwar auf unterschiedliche Zeitwahrnehmungen und ihre neuronalen Korrelate zu sprechen kommt, nicht jedoch auf – für die Mystik wichtige – veränderte Raumwahrnehmungen (Stichwort ›Entgrenzung‹). Der vierte (reformatorische) Freiheitstyp findet schon aus definitorischen Gründen keine empirische Entsprechung, da das Heil ohne Zutun des Menschen extra nos konstituiert wird (248).
Das vom Vf. skizzierte integral-dynamisch-personale Modell von Willensfreiheit möchte die bleibende Relevanz bisheriger Modelle integrieren und durch Anreicherung neurowissenschaftlicher und evolutionärer wie sozialer Aspekte weiterführen. Diese Skizze ist freilich noch rudimentär und eröffnet den Freiraum für weitere Bearbeitungen.
Die Stärke des Buches scheint mir in der Überblicksdarstellung zu liegen, in der Problemlagen gebündelt, wenn auch manchmal zu abbreviativ geboten werden. Zudem ist gerade der Versuch, herkömmliche Freiheitsmodelle mit neurowissenschaftlichen und empirischen Ergebnissen kritisch zu korrelieren, hervorzuheben, da derartige Bemühungen innerhalb der Theologie bislang eher ein Desiderat darstellen. Fragen kann man aber, ob der dafür zu berappende Preis von knapp 60,00 Euro nicht doch zu hoch gegriffen ist, insbesondere dann, wenn zahlreiche wichtige Publika­tionen zum Thema schlichtweg fehlen. Das muss der Leser aber selbst entscheiden. Auf philosophischer Seite gibt es sehr gute und güns­tige Überblicksdarstellungen, in welchen auch die neurophilosophische Debatte nicht zu kurz kommt.