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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1348-1350

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Winkler, Vera-Sabine

Titel/Untertitel:

Leise Bekenntnisse. Die Bedeutung der Poesie für die Sprache der Liturgie am Beispiel von Hilde Domin.

Verlag:

Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag 2009. 480 S. m. 1 Porträt, Abb. u. Tab. 8° = Theologie und Literatur, 22. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-7867-2788-0.

Rezensent:

Alexander Deeg

Vera-Sabine Winkler legt eines jener selten gewordenen theologischen Fachbücher vor, deren Lektüre gleichsam wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn sowie praktische Anregungen für die kirchliche Arbeit bedeutet und pure Leselust bereitet. Bis in die Buchgestaltung hinein ist – durch zahlreiche Abbildungen, weitgehend präzise Lektorierung, einen hilfreichen, wenngleich etwas überladenen Anhang – ein inspirierendes Werk entstanden. Die im Jahr des 100. Geburtstags von Hilde Domin (1909–2006) veröffentlichte Wuppertaler Dissertation ruft epistemologisch und inhaltlich aus der Routine heraus und leistet damit selbst das, was Lyrik in den Augen Domins bewirken kann: ein »Stoppen von Zeit und Zweck« (336).
In immer neuen Perspektiven begegnen Leserinnen und Leser einem Grundproblem, das Hilde Domin die grassierende »Selbstverständlichkeit, mit der in vielen Lebensbereichen ein rein funktionaler Sprachgebrauch gepflegt wird« (135), nannte. W. überträgt dies auf die Sprache in Theologie und Kirche, insbesondere auf die Sprache des Gottesdienstes. Kritik an der Instrumentalisierung der Sprache verbindet sie mit dem Aufweis der Chancen einer theopoetisch erneuerten Sprache.
Das Buch lädt in zehn Kapiteln »zu einer Reise durch das Leben und Werk Hilde Domins ein, um Mut zu machen zu einer … poetischen und theopoetischen Perspektive auf die Liturgie« (39). Die Kapitel 1 und 10 bilden den Rahmen des Werks. Kapitel 1 führt in die Untersuchung ein, indem es – wie alle Kapitel – von einem Text Hilde Domins ausgeht, diesen mit theologischen und liturgischen Überlegungen konstellativ verbindet und so den 1991 von Kurt Marti in die Diskussion gebrachten und vor allem von Henning Schröer weiterentwickelten Begriff der Theopoesie umreißt. Kapitel 10 beschließt das Buch mit einer Bündelung und Überlegungen zur konkreten Umsetzung des Ausgeführten in die theologische Aus- und Fortbildung hinein. Die Kapitel 2 bis 9 gliedern sich in zwei Komplexe, die jeweils mit einem einleitenden Kapitel eröffnet und dann in drei Aspekten weitergeführt werden. Im zweiten Kapitel analysiert W. den einzigen Roman Domins »Das zweite Paradies«, der als »Roman in Segmenten« die Fragmentarität des Lebens aufzeigt. In Aufnahme von Henning Luthers Überlegungen zu Fragment und Subjektkonstitution leitet Winkler zur Wahrnehmung der Liturgie über und entwickelt die Architektur der drei folgenden Kapitel, in denen das »Kyrie« als Ausdruck schmerzlich erfahrener Fragmentarität (Kapitel 3), das Gloria als unspezifisch genauer Ausdruck des Ganzen und Vollendeten (Kapitel 4) und das Credo als Beheimatung im Wort beleuchtet werden (Kapitel 5).
Das sechste Kapitel bildet erneut ein Scharnier: Es bestimmt die Dialektik von Exil und Heimat als prägende Konstante für die Dichterin und erarbeitet eine liturgische Topographie, indem eine Liturgie vor der Liturgie (Kapitel 7), hinter der Liturgie (Kapitel 8) und nach der Liturgie (Kapitel 9) bestimmt wird.
Es wäre vermessen, den Reichtum der Arbeit auf einige wenige Thesen zu verkürzen. Das Buch leistet Wesentliches auf mindes­tens sieben Ebenen: W. liefert erstens einen beachtlichen Beitrag zur Domin-Forschung, vor allem durch die Art und Weise, wie sie Biographie und Werk miteinander ins Wechselspiel bringt und wie es ihr gelingt, die Texte Domins akribisch wahrzunehmen und ihnen doch ihre Offenheit zu belassen (eindrucksvoll etwa in der Interpretation der Sisyphus-Gedichte in Kapitel 9). Lediglich eine intensivere Wahrnehmung der expliziten und impliziten biblischen Spuren im Werk der Lyrikerin hätte sich für das Thema noch als gewinnbringend erweisen können. Damit gelingt es W. zweitens zugleich, den »Dialog«/die »Begegnung« von Theologie und Literatur präziser als bisher zu bestimmen. Gedicht und Gebet kommen wechselseitig ins Spiel; Schreiben und Glauben werden als Vollzüge in ihrer Parallelität wahrgenommen (vgl. 70.225–237). W. vermeidet jede Vereinnahmung der Lyrik. Stattdessen bringt sie die Literatur Domins mit der theologischen Diskussion konstellativ in einen Zusammenhang und leistet damit drittens einen le­senswerten Beitrag zu einer ästhetischen Praktischen Theologie der Konstellationen (in Aufnahme von Albrecht Grözinger). W. gelingen Übergänge, indem sie transversale Berührungspunkte zwischen Diskursen findet. Freilich erweist sich diese Methodik dort als problematisch, wo W. zu viele Themen ins Spiel bringt, anreißt, aber nicht weiterführt, und eher aphoristisch statt argumentierend zu Aussagen kommt – etwa wenn sie Klaas Huizings Skriptologie knapp diskutiert (152–155), in Kapitel 8 auf wenigen Seiten über Abendmahl, Ökumene und das Miteinander der Religionen schreibt oder in Kapitel 9 das um­strittene Projekt einer gerechten Sprache für den Gottesdienst auf nicht einmal drei Seiten abhandelt (366–368). Trotz dieser metho­-dischen Anfrage bedeutet W.s Werk viertens einen überzeugenden Beitrag zu dem Projekt einer Theopoesie – einer theologischen Reflexion auf den Zusam­menhang von Glaube, Wort und Welt. Die Durchführung W.s lädt zu weiteren Arbeiten in der gelegten Spur ein; ob damit freilich nach der empirischen und ästhetischen nun eine theopoetische Wende anbricht (vgl. 308), erscheint mir angesichts der begrenzten Reichweite theopoetischer Überlegungen doch eher unwahrscheinlich.
Vor allem versteht sich W.s Arbeit fünftens als Beitrag zu Theorie und Gestaltung des Gottesdienstes, vor allem der liturgischen Sprache. Liturgie wird als »Angebot einer poetisch verdichteten, über sich selbst hinausweisenden Lebensdeutung« (76) beschrieben, und die rund 400 Seiten der Arbeit bieten reiche Erkenntnisse zu Zweckfreiheit und Intertextualität liturgischer Sprache, zu ihrer »unspezifischen Genauigkeit« (Kapitel 4), zu einzelnen Sprachformen (Paradox, Metapher …; vgl. Kapitel 7), zur politischen Dimension der Liturgie. Die Poeturgie als Spezialfall der Liturgie (391–398) wird nach W.s Arbeit zu den grundlegenden Aufgaben jeder Liturgik zu rechnen sein. Fünf liturgische Anfragen bleiben:
Bedauerlich ist 1., dass die Theologie der Liturgie kaum bearbeitet wird. Henning Schröers »Hoffnung …, dass in der Kunst der Worte … Gott zu uns im Wort der Sprache kommt«, hätte ebenso eine Weiterführung verdient, wie die Dialektik von Exil und Heimat für eine Verortung der Liturgie zwischen ›Erde und Himmel‹ einen Anknüpfungspunkt geboten hätte. Zu knapp erscheint mir 2. die Rolle der Tradition für die liturgische Sprache gewürdigt. Liturgie ist jenes Sprachkunstwerk, in dem geprägte und neu gestaltete Texte in ein Wechselspiel geraten. Dies wird teilweise aufgenommen (vgl. 255–269), insgesamt aber schlägt W.s Herz für neue Formulierungen, so dass die poetische Wahrnehmung traditioneller Textgestalten kaum Gewicht erhält. Damit hängt 3. auch die Problematik zusammen, dass Poesie ein in höchstem Maße individueller Sprachausdruck ist, die Liturgie aber von gemeinsam begehbaren Texten lebt. Gelegentlich erscheinen W.s Überlegungen m. E. eher als Beiträge zur homiletischen denn zur liturgischen Sprachfindung. Angesichts der Akribie und Sensibilität, mit der Domins Gedichte von W. interpretiert werden, erscheint es 4. problematisch, dass liturgische Sprache an keiner Stelle der Arbeit genauer analysiert wird. Sie kommt nur abstrakt vor; die mikrologische Aufmerksamkeit für Sprache bleibt der Lyrik vorbehalten. Von Ruddat und Grethlein nimmt W. das Kriterium der »Verstehbarkeit« für die liturgische Sprache selbstverständlich auf (vgl. 317). Angesichts der Lyrik Domins und im Kontext der theopoetischen Reflexionen wäre 5. dieses Kriterium (mit seinen Gefahren der Funktionalisierung, Instrumentalisierung und Banalisierung von Sprache) kritisch ins Gespräch zu bringen gewesen.
W.s Arbeit bietet ein überzeugendes Plädoyer für eine Erweiterung der vielfach diskutierten liturgischen Kompetenz hin zu einer »poetischen Kompetenz« (386) und »spirituellen Präsenz« (323) sowie für eine veränderte theologische Ausbildung, zu der etwa ein »Sprachkurs Theopoesie« (394 f.) integral gehören müsste. W. regt zum Weiterdenken an, bietet zahlreiche Impulse für liturgische Sprachfindung und theologische Reflexion und lässt weitere theopoetische Projekte sowie Modifikationen der theo­logischen Aus- und Fortbildung imaginieren. Eine unbedingte Leseempfehlung!