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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1343-1345

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Böttler, Winfried [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»Mach in mir deinem Geiste Raum«. Poesie und Spiritualität bei Paul Gerhardt.

Verlag:

Berlin: Frank & Timme 2009. 207 S. m. Abb. 8° = Beiträge der Paul-Gerhardt-Gesellschaft, 5. Kart. EUR 24,80. ISBN 978-3-86596-240-9.

Rezensent:

Johannes M. Ruschke

Paul Gerhardts dichterisches Werk zeichnet sich durch eine tiefe Frömmigkeit und eine außergewöhnliche poetische Reife aus. Diese Aspekte beleuchten neun Beiträge eines durch Winfried Böttler herausgegebenen interdisziplinären Sammelbandes. Sie sind die Früchte der Jahrestagung der Paul-Gerhardt-Gesellschaft 2008 in der Lutherstadt Wittenberg. Die Autoren betrachten Gerhardts Wirken aus theologischer, hymnologischer, sprachwissenschaftlicher, literaturwissenschaftlicher, germanistischer, diakonischer und musikwissenschaftlicher Perspektive.
Als Auftakt stellt die Mainzer Theologieprofessorin Christa Reich dar, »wie Paul Gerhardts Lieder sprechen lehren« (14). Dazu untersucht sie – ähnlich wie ältere hymnologische Untersuchungen (vgl. vor allem Aellen 1912; Hillenbrand 1992) – die rhetorisch-poetische Gestaltung von Gerhardts Liedern und kommt zu dem Schluss, dass diese durch eine »kunstvoll gestaltete, den damaligen Regeln von Rhetorik und Poetik souverän und phantasievoll entsprechende Sprache« (15) gekennzeichnet seien. Da es Gerhardt verstehe, lutherische Dogmatik in kunstvolle Sprache zu kleiden, seien seine Lieder eine »Sprachschule des Glaubens«, ja sogar »die angemessene Form von Theologie« (25).
Die emeritierte Bielefelder Theologieprofessorin Elke Axmacher bietet in ihrem Aufsatz eine Verknüpfung hymnologischer und theologiegeschichtlicher Erkenntnisse. Sie zeigt anhand des Liedes »O Jesu Christ, dein Kripplein ist mein Paradies« auf, inwiefern Gerhardt »durch Betrachtung, Aneignung und Weitergabe gewiß des Lehrgehalts, aber vermittelt durch ein repräsentatives Ich und ge­staltet nach den Anweisungen der Rhetorik« (30) Sprache meisterlich behandelt. Axmacher macht wieder einmal anschaulich und fundiert deutlich, dass und inwiefern Gerhardt in seinen Dichtungen die lutherische Schultheologie des 17. Jh.s, in diesem Fall die Inkarnationslehre, verarbeitet. Dazu analysiert sie Aufbau und Inhalt des Liedes und stellt im Vergleich mit Werken ausgewählter Erbauungsschriften (Moller, Füger, Arndt; die Texte werden zur besseren Nachvollziehbarkeit im Anhang geboten) fest, dass Gerhardts Lieder in besonderem Maße eine klare theologisch begründete Gliederung aufweisen. Somit verbindet Gerhardt »Dogmatik und Dichtung« und möchte »beiden gerecht werden« (45).
Der Hymnologe Günter Balders untersucht in seinem Beitrag, inwiefern sich in Gerhardts Werk »Buchstabensymbolik und kleine Formelemente« finden. Er verbindet damit den Anspruch, »für die Lied- und Gedichtanalyse zusätzliche Einsichten – literaturwissenschaftlich-poetologische ebenso wie biographische, ja auch theologische« (112) zu bieten. Motiviert durch den Zufallsfund eines Chronogramms hat Balders mit Hilfe des Computers die Dichtungen Gerhardts sorgfältig durchgearbeitet. Die von Balders gefundenen Monogramme (»PG«) sind jedoch nicht immer zwingend und könnten genauso gut dem Zufall geschuldet sein. Ähnlich verhält es sich größtenteils mit den Wortspielen, die Balders in den Widmungsgedichten ausfindig macht, bei den Akrosticha und anderen kombinierten Buchstaben sowie bei Chronogrammen und Chronostica. Besser nachzuvollziehen, aber letztendlich auch nicht zwingend, sind in den »doppelbödigen Texten« (99 u. a.) die Intext-Funde der Abkürzungen »SDG« sowie die Verweise auf Gerhardts Frau Anna Maria bzw. ihre Familie. Auch wenn Balders hofft, dass die Fülle seiner entdeckten Beispiele »der Beweisführung dienen« wird, ist sich der Autor der Fragilität seiner Thesen durchgehend bewusst (60.71.81 f.87.89.102.112). Seinem Anspruch kann Balders somit trotz einiger interessanter Dechiffrierungen nicht in vollem Maße gerecht werden. Ergänzend sei darauf hin­-gewiesen, dass sich die nicht nur bei Balders (60) und der Gesamtausgabe von Cranach-Sichart zu findende Behauptung, das Lied »Du liebe Unschuld, du«, finde sich nicht in Ebelings Werkausgabe von 1666/1667, falsch ist; es findet sich bei Ebeling unter XIX.
Die Berliner Geschichtsprofessorin Esther-Beate Körber zeigt in ihrem Beitrag, wie Gerhardt zahlensymbolisches Wissen auf eine für ihn »spezifische Art der poetischen und theologischen Anwendung« anwandte. Dies verdeutlicht sie schlüssig anhand der Dichtung »Gott Lob, nun ist erschollen«. Gerhardt setzt in den einzelnen Strophen symbolische Zahlendeutungen ein, »nämlich so, daß jeweils der Inhalt einer Strophe auf die symbolische Bedeutung der Positionsziffer der Strophe Bezug nimmt. Ziffer und Stropheninhalt entsprechen einander durch den selben Symbolgehalt« (127). Körber kommt zu dem Fazit: »Es gibt also, aus dem Friedenslied, aber nicht nur aus ihm, starke Indizien dafür, daß Gerhardt in einer in seiner Zeit noch lebendigen Tradition zahlensymbolischer Denk- und Kompositionsmöglichkeiten stand und diese Möglichkeiten als Dichter und Theologe produktiv genutzt hat.« (132) Ziel der zahlensymbolischen Konstruktionen in Gerhardts Dichtung sei »eine übergreifende und wohl auch theologisch stimmige Aussage, daß nämlich alles menschliche Tun und Leiden, auch Friede und Krieg, in einer Schöpfungsordnung stehen, die von Gott so gewollt ist« (134). Anzufragen ist an Körbers Aufsatz, ob nicht zur Befestigung ihrer Thesen die Analyse weiterer Dichtungen Gerhardts vonnöten gewesen wäre.
Der emeritierte Heidelberger Philologe Reinhard Düchting hat drei der Forschung bisher unbekannte lateinische Gelegenheitsdichtungen entdeckt und hier erstmals veröffentlicht (137–145). Er erläutert Probleme bei der Edition und kündigt eine mittlerweile 2010 im Mattes-Verlag (Heidelberg) erschienene Ausgabe der lateinischen Dichtungen Paul Gerhardts an.
Der emeritierte Bochumer Germanistikprofessor Jörg-Ulrich Fechner nähert sich in seinem Beitrag Gerhardt dezidiert literar­his­torisch, da er aus den biographischen Angaben aufgrund ihres fragmentarischen Charakters keine neuen Erkenntnisse erwartet. Fechner macht an Beispielen aus der Dichtung »Nun ruhen alle Wälder« deutlich, dass Gerhardt zu den Nutzern emblematischen Denkens gehört. Besonders anschaulich ist der Abschnitt über die Rezeption Gerhardts durch theologische Zeitgenossen, die an der Schwelle vom 17. zum 18. Jh. standen. Anhand erstmaliger Ab­drucke von Ausschnitten aus Werken von Martin Kempe, Erdmann Neumeister und anderen belegt Fechner, dass Zeitgenossen Gerhardts Lieder überaus wertschätzend aufgenommen haben. Auch die Liedpredigten des beginnenden 18. Jh.s, eine entscheidende Zeit für die Verehrung Gerhardtscher Lieder, sei, so illus­triert Fechner an dem Werk Heinrich Götzes, eine von der bisherigen Forschung noch nicht ausreichend benutzte, »unschätzbare Sekundärquelle für das Wissen über Paulus Gerhardt« (162). Erst eine erneute Be­schäftigung mit Sekundärquellen könne ein angemessenes Verständnis von Gerhardts Dichtungen und seiner Zeit ermöglichen.
Des Weiteren bietet die Musikwissenschaftlerin Elke Liebig einen Ausschnitt von Ergebnissen ihrer Dissertation zu Johann Georg Ebeling, die Kirchenmusikdirektorin Britta Martini einen Rückblick auf den Paul-Gerhardt-Wettbewerb der VELKD und der Diakoniepfarrer Rainer Wettreck eine Darstellung der diakonischen Unternehmensentwicklung im Zeichen Paul Gerhardts.
Die Vielfalt von Zugangsweisen macht diese Publikation zu einem interessanten Band nicht nur für Theologen. Sie belegt eindrücklich, dass Paul Gerhardt erst durch einen interdisziplinären Forschungsansatz hinreichend verstehbar werden kann – diesem Desiderat werden zwar nicht die einzelnen Beiträge an sich, jedoch der Band als Ganzer gerecht.