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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1337-1339

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Frank, Günter, u. Martin Schneider[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Melanchthon deutsch III. Von Wittenberg nach Europa. Übersetzung v. M. Schneider.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 321 S. 8°. Geb. EUR 18,80. ISBN 978-3-374-02854-2.

Rezensent:

Adolf Martin Ritter

Es ist überaus begrüßenswert, dass das verdienstvolle Unternehmen, nach und neben der ebenso gelungenen wie erfolgreichen Lutherkassette des Insel-Verlages (für mich eine der sinnvollsten Publikationen zum Lutherjahr 1983), rechtzeitig zum 500. Geburtstag des Praeceptor Germaniae eine ähnlich angelegte und ausgestattete zweibändige Auswahl von ins Deutsche übersetzten Texten Melanchthons vorzulegen (vgl. die Rezension in: ThLZ 123 [1998], 488f.), nach nahezu anderthalb Jahrzehnten eine Fortsetzung ge­funden hat. Dass dabei ein weiteres Melanchthon-Jubiläum (das der 450. Wiederkehr des Todestages des Reformators) knapp verfehlt wurde, dürfte weit weniger ins Gewicht fallen, als dass der hier vorzustellende Fortsetzungsband früh genug im Vorfeld des Reformationsjubiläums von 2017 auf dem Markt ist und dort – gemeinsam mit den kürzlich (Juli 2011) neu aufgelegten ersten beiden und (hoffentlich!) den zwei weiteren geplanten Bänden – beizeiten eine wichtige Mission erfüllen kann: deutlich zu machen, dass die Reformation zwar ohne Luther kaum zu denken, aber mit ihm keineswegs identisch ist. Vielmehr lässt sich wohl (mit Chr. Gestrich) sagen: Erst durch Melanchthons Hinzutreten habe in Wittenberg in der seltensten Weise aus nur zwei Köpfen und zwei Federn schon eine wirk­-liche und vollständige Kirchenlehre entstehen können. Schon im­mer aber habe christliche Theologie zwei Brennpunkte benötigt: einen prophetischen und einen Prophetie rezipierenden und verarbeitenden; und einer sei so wichtig wie der andere! Und noch ein Weiteres will ich im Blick auf 2017 (und mögliche thematische Engführungen) zu bedenken geben: Wohl haben die Freunde des reformatorischen mainstream allen Anlass, Denkbuße zu leisten, nicht zuletzt für das, was in dessen Namen und Einflussbereich den Befürwortern einer »radikale(re)n« Reformation, zumal den Täufern, an­getan wurde. Dennoch gehört die Friedensethik dieses mainstream, jedenfalls soweit er von Luther und Melanchthon repräsentiert wird (vgl. nur Bd. 1 von »Melanchthon deutsch«, 321–324, den von beiden gemeinsam verfassten Brief an den sächsischen Landesherrn im Zusam­menhang der »Packschen Händel«), durchaus nicht auf den Abfallhaufen der Geschichte, sondern hat nach wie vor viel Vernunft, Moral und Religion auf ihrer Seite.
An den beiden schönen Vorgängerbänden, von dem inzwischen verstorbenen Leipziger Reformationshistoriker G. Wartenberg und seinen Mitarbeitern M. Beyer und S. Rhein herausgegeben und seinerzeit mit Unterstützung des Landes Sachsen-Anhalt gedruckt, waren insgesamt 24 Übersetzerinnen und Übersetzer aus dem Lateinischen und Frühneuhochdeutschen beteiligt. Für den neuen Band tragen nur zwei Fachleute die Verantwortung: der Leiter der »Europäischen Melanchthon-Akademie« und Kustos des Brettener Melanchthon-Hauses sowie Privatdozent an der FU Berlin, G. Frank, und M. Schneider, Pfarrer der badischen Landeskirche und promovierter Kirchenhistoriker, den seine Landeskirche, unerachtet ihrer klammen finanziellen Lage, als Referenten an die Akademie entsandte und für das Melanchthonstudium freistellte – eine substantielle Unterstützung, für die man dieser Landeskirche und ihrem Bischof nur sehr dankbar sein kann. Schneider zeichnet für die Übersetzungen allein verantwortlich, was eine größere Ge­schlossenheit garantiert, als in den Vorgängerbänden erreichbar war; ausgenommen ist der Reformationsentwurf für das Erzstift Köln von 1543 oder, richtiger, der melanchthonische Anteil daran, für den vernünftigerweise die Übersetzung von Gerhards und Borth (Düsseldorf 1972) übernommen wurde.
Die Kriterien für die Auswahl (bis auf den Kölner Reformationsentwurf nur geschlossene Texte, aber ohne Beigabe der Originale) und die Übersetzung sind, zu Recht, im Wesentlichen die gleichen geblieben wie in Band 1 und 2; die Erläuterungen sind wiederum ausreichend; sprachliche Ausrutscher und Druckfehler sind selten und fallen in keinem Fall ins Gewicht. Inhaltlich gesehen geht es um die Dokumentation von Melanchthons so wichtiger, wenn auch nicht immer erfolgreicher Versuche, in Deutschland und Europa Brücken zu schlagen, worin er sich noch zu Luthers Lebzeiten von diesem schon deshalb unterschied, weil Luther seit Worms (1521) unter Reichsacht stand und sich deshalb über die Grenzen Kursachsens nicht hinauswagen durfte. Die humanistische Prägung, die Melanchthon – bei aller bleibenden Dankbarkeit gegenüber Luther, von dem er »das Evangelium gelernt« habe (30) – auch in den hier vorgelegten Dokumenten nirgends verleugnen konnte noch wollte, half ihm wesentlich beim Brückenbauen und bei der Errichtung von Netzwerken.
In Deutschland (15–130) ging es vor allem darum, den Konflikt zwischen Kaiser und evangelischen Reichsständen, aber auch zwischen Letzteren selbst möglichst zu dämpfen, zumindest nicht weiter zu verschärfen. Der Kontakt zum England Heinrichs VIII. (133–192) und zum Frankreich Franz’ I. (195–224) ergab sich schon deshalb, weil beide Mächte natürliche Feinde des Kaisers waren und darum mindestens anfänglich das Aufkeimen einer innerdeutschen Opposition mit Interesse und Sympathie begleiteten. Italien und Rom (15–21.227–268) waren deshalb nicht auszusparen, weil dort, namentlich in Rom, noch immer der Schlüssel zum Er­halt der Kircheneinheit verwahrt wurde, an welcher Melanchthon bis zuletzt wohl mehr gelegen war als anderen Evangelischen; vor allem aber hatte er sich namens der evangelischen Reichsstände mindestens seit Papst Pauls III. Amtsantritt mit den römischen Konzilsvorstellungen auseinanderzusetzen (vgl. 14–21.255 ff.). Be­eindruckend ist in diesem Zusammenhang besonders, mit welch tiefer Betroffenheit und ohne auch nur den leisesten Anflug von »klammheimlicher Freude« von den Verwüstungen des Sacco di Roma von 1527 die Rede ist (227 ff.255 ff.), auch mit welchem Res­pekt Melanchthon bis zuletzt auf das Kaisertum Karls V. zurück-blickt (255 ff.), obwohl dieser schließlich doch mit Gewalt gegen die »protestierenden« Reichsstände vorgegangen war.
Die Zuwendung zum südosteuropäischen Raum (271 ff.) schließlich war eine Folge des Vordringens des Islam auf dem Balkan bis vor die Tore Wiens (1529), das umso mehr die Aufmerksamkeit auch der Wittenberger Theologen auf sich zog, seit sich dort, zuerst unter den deutschstämmigen Einwanderern Siebenbürgens (den sog. »Sachsen«), die Reformation ausbreitete und nach Beratung und Begleitung von außen verlangte. Aber natürlich lenkte es auch die Blicke auf das Schicksal der unterdrückten Or­thodoxie auf dem Balkan und in Kleinasien. Melanchthons »Rede über die Eroberung Konstantinopels« im Jahr 1453 (289–300), in vielem an die über den Sacco di Roma erinnernd, und ein »Brief an den Patriarchen Joasaph II. in Konstantinopel« (301–303) aus seinen letzten Lebensjahren sind bewegende Zeugnisse christlicher Solidarität und ökumenischer Gesprächsbereitschaft. Der Islam hingegen gilt ihm, wie wohl den meisten seiner abendländischen Zeitgenossen, gerade auch Luther, als christliche Sekte und der Koran als ketzerischer »Wahnsinn« (furor), gegen den es sich zu wappnen gelte (271–275). Verteidigung gegen sein weiteres Vordringen sei erlaubt; doch wichtiger sei es, »zu bedenken, wie groß Gottes Zorn ist, der es zulässt, dass wegen der Gottlosigkeit der Menschen diese so schreckliche Pest sich ausbreitete«, und also Buße zu tun und zu beten (274).