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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1334-1336

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Spehr, Christopher

Titel/Untertitel:

Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XXI, 639 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 153. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-150474-7.

Rezensent:

Nicole Kuropka

Hinter dem knappen Titel »Luther und das Konzil« verbirgt sich eine umfassende, facettenreiche und quellenintensive Untersuchung, welche die gesamte Schaffenszeit des Reformators aus dem Blickwinkel der Konzilsthematik instruktiv beleuchtet. Die von Albrecht Beutel begleitete und in Münster als Habilitationsschrift angenommene Studie von Christopher Spehr wurde von der Göttinger Akademie der Wissenschaften im Jahre 2010 mit dem Hanns-Lilje-Preis ausgezeichnet.
Die Notwendigkeit dieser Studie begründet der Vf. in seiner ausführlichen Einleitung (Kapitel I) zum einen inhaltlich, da Luther die für die Reformationszeit zentralen Konzilsdiskurse »wie kein anderer initiierte und … prägte« (5). Zum anderen dränge sich die Neubearbeitung dieses Themas auf, weil »trotz der Brisanz und Komplexität der Thematik das Terrain nur marginal bestellt ist« (ebd.). Diesen Forschungsdesideraten stellt der Vf. seine acht Kapitel umfassende Studie entgegen, die aufgrund ihrer liebevollen und akribischen Detailarbeit an den Quellen, die stets aus dem historischen Kontext heraus präsentiert werden, sowie ihrer intensiven und kritischen Auseinandersetzung mit der umfangreichen Forschungsliteratur überzeugt.
Dabei liegt der zeitliche Schwerpunkt der Studie in den Jahren bis zum Wormser Reichstag 1521. In dieser Phase sei Luther durch seine reformatorischen Anliegen zur theologischen wie kirchlich-pragmatischen Klärung der Konzilsthematik genötigt worden. Dabei zeigt der Vf. auf, dass Luther grundlegend nicht konziliaris­tisch geprägt war, sondern durch den Ablassstreit und das beginnende Ketzerverfahren dem Konzil zunehmende Bedeutung zu­maß. Der Verlauf des Verhörs in Augsburg brachte Luther dazu, »sich vom Papst als Richter an das die gesamte Christenheit repräsentierende Forum des allgemeinen Konzils« (101) mit seiner Appellation zu wenden. Trotz dieser pragmatischen Inanspruchnahme sei aus Luther, so der Vf., kein Konziliarist geworden, weil er zeitgleich das Konzil als irrtumsfähige Autorität zu hinterfragen begann (Kapitel II). Die Leipziger Disputation beschleunigte diese differenzierte Sichtung und führte zu Luthers bekannter Konzilskritik im Streitgespräch mit Johannes Eck. Dabei verurteilte der Reformator jedoch nicht alle Konzilien gleichermaßen: Nicäa wurde zum kirchengeschichtlichen Positiv- und Konstanz zum Negativbeispiel (Kapitel III). In der folgenden Zeit finden sich bei Luther gleichermaßen konzilskritische wie konzilsfordernde Aussagen.
Wie dieser Spannung Rechnung zu tragen ist, ohne darin einen Widerspruch zu sehen, erläutert der Vf. in Kapitel IV: Theologisch unterschied Luther zwischen rechtmäßigen und irrigen Konzilien, wobei er die Schriftgemäßheit zunehmend zur entscheidenden Norm entwickelte. Parallel wollte Luther auf kirchenpraktischer Ebene ein Konzil zum Nutzen der schriftgemäßen, kirchlichen Reformen (Laienkelch, Priesterehe) in Anspruch nehmen. Neu da­bei war seine Forderung nach einem »freien« christlichen Konzil – einem Aufruf, der fortan von unterschiedlichen Instanzen aufgegriffen wurde. Nachhaltig prägten die Ereignisse des Wormser Reichstages 1521 Luthers Konzilsverständnis (Kapitel V). Dabei betont der Vf., dass Luthers Konzilskritik »im kaiserlichen Edikt zum wesentlichen Argument für den Erweis seiner Irrlehre avanciert« (317). Dabei bewirkten die Ereignisse des Reichstages letztlich eine gegenläufige Entwicklung: Luther sah nach Worms keine Hoffnung mehr auf eine Klärung der Glaubensfrage durch ein Konzil. Doch gerade im Moment seiner Abkehr von einer Konzilsforderung machten sich die Reichsstände diese zu eigen und verbanden ab 1522 die Gravamina mit dem Ruf nach einem Konzil.
Den Konsequenzen dieser gegenläufigen Entwicklung bis zu Luthers Tod widmet sich der zweite, deutlich kürzere Teil der Studie. Luthers Abkehr von der Konzilsforderung ging einher mit seiner Betonung einer kirchlichen Reform allein durch Gottes Wort, deren Hauptverantwortung er den Pfarrern und Gemeinden zusprach (Kapitel VI). Trotz der sich dabei zeigenden Organisationsprobleme lehnte Luther in Folge eine Synode oder ein Konzil als kirchenleitende Instanz ab: Luther war »nicht nur ein päpstliches Konzil, sondern pauschal jedes Konzil – selbst als evangelische Reforminstitution – suspekt geworden … Die Erneuerung des Glaubens … vollzog sich allein durch die Verkündigung und Predigt des Evangeliums, für deren praktische Durchführung die weltliche Obrigkeit Sorge zu tragen hatte« (408). Eine erneute Auseinandersetzung mit der Konzilsthematik wurde für Luther durch die päpstlichen Konzilsinitiativen ab 1533 notwendig, weil die Wittenberger Theologen vom Landesherrn um gutachterliche Stellungnahmen gebeten wurden (Kapitel VII). Luther, so der Vf., argumentierte in diesen strategisch: Um den Eindruck eines Konzilsboykotts nach außen zu vermeiden, verzichtete er auf seine grund­legende Konzilskritik; seine Forderung nach dem Ausschluss des Papstes als letzte Richterinstanz formulierte er hingegen deutlich. Einen Meinungsumschwung lasse sich bei Luther jedoch auch zu dieser Zeit nicht feststellen. Denn über die Gutachten hinaus veröffentlichte Luther antipäpstliche und polemische Schriften. Systematisierend brachte Luther sein kritisches Konzilsverständnis in der Schrift »Von den Konziliis und Kirchen« zum Ausdruck: Ein Konzil könne positiv Probleme und Irrlehren in der Kirche lösen, kann aber niemals Glaubenslehren aufstellen, sondern allein die biblische Wahrheit verkündigen. Trotz dieser theoretischen Wertschätzung blieb Luther ausgesprochen zurück­haltend in den realen Erwartungen an ein großes Konzil, sondern setzte viel stärker auf die kleinen Konzilien in Gemeinden und der Schule.
Die Studie wird mit einer Zusammenfassung beschlossen, wo­bei gut 40 eng bedruckte Seiten an Quellen- und Sekundärliteratur folgen. Ein fast 30 Seiten langes Register erschließt die Studie nach Bibelstellen, Personen, Orten und Sachen. Hilfreich für die Nutzung dieser Arbeit ist auch das ausführliche Inhaltsverzeichnis (IX–XVII), welches einen guten Einblick in und Orientierung über die behandelten Themen und Quellen gewährt. Zudem wird zu Be­ginn der Kapitel jeweils ein prägnanter Überblick über die folgenden Untersuchungen gegeben – angesichts der Fülle an gebotenen Informationen ein hilfreicher Wegweiser.
Diese mehrdimensionale Darstellung der Konzilsthematik aus Luthers Perspektive meistert die Analyse eines sehr umfangreichen Quellenmaterials und besticht darin, immer parallel die theologische Entwicklung und die praktische Umsetzung im Verlauf der Reformation nachzuzeichnen. Bewusst fokussiert der Vf. in seiner Untersuchung auf die Perspektive Luthers und begnügt sich mit vereinzelten Hinweisen auf Karlstadt (z. B. 241) oder Melanchthon (z. B. 437 f.505). So sehr diese Entscheidung allein angesichts der Fülle des auszuwertenden Materials sinnvoll ist, so sehr fordert diese Studie nun zu weiteren Forschungen heraus. Sowohl für die Zeit bis zum Wormser Reichstag (1521) als auch für die Jahrzehnte danach sind Luthers Interaktionen, seine Abhängigkeiten von und seine Einflussnahmen auf andere Wittenberger Reformatoren in den Blick zu nehmen.