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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1329-1332

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Ohlemacher, Andreas

Titel/Untertitel:

Lateinische Katechetik der frühen lutherischen Orthodoxie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 510 S. m. Abb. u. Tab. gr.8° = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 100. Geb. EUR 100,95. ISBN 978-3-525-56399-1.

Rezensent:

Markus Wriedt

Die 2008 in Göttingen promovierte und von Thomas Kaufmann betreute Dissertation von Andreas Ohlemacher behandelt ein wich­tiges Quellencorpus der Implementation konfessioneller Theologie in breiteren Schichten der Bevölkerung als der schma-len Gruppe akademischer Gelehrter. Die Arbeit, deren akribische Detailforschung im Druck nicht vollständig berücksichtigt werden konnte, u. a. eine Quellentabelle mit 1585 katechetischen Werken, die zwischen 1520 und 1620 auf deutschem Reichsgebiet erschienen sind, zeugt von intensiver Recherche und einer im Blick auf die übergeordnete Frage nach der Entstehung und Prägung konfessioneller Kulturen außerordentlich wichtigen Kärrnerarbeit. Dennoch verbleibt die Arbeit nicht im archivalischen Detail stecken, sondern ordnet die Befunde in den Gesamthorizont neuerer reformationsgeschichtlicher Forschung ein.
Gleich zu Beginn nimmt O. eine wichtige Einschränkung seiner Untersuchung vor: Er beschränkt sich auf die lateinischen Katechismen. Dies freilich mit gutem Grund: »In einer Zeit etablierter und zunehmender volkssprachlicher Katechese können diese Wer­ke zunächst als Anachronismen erscheinen. Identifikation, Dar­stellung und Analyse der lateinischen Werke mit dem Ziel, Erklärungen für ihre zum Teil sehr weite Verbreitung zu finden, ist die Aufgabe der vorliegenden Arbeit.« (11)
Zunächst klärt O. einzelne Begriffe der Themenstellung: »Lu­-therische Orthodoxie« versteht er »als die Zeit der Lehrverfestigung und institutionellen Umsetzung reformatorischer Anregungen nach dem Neuaufbruch in der Theologie durch die Reformation« (11); »katechetische Werke« als »Erstlernerkatechismen, Katechismen für Studienanfänger, Prüfungskandidaten und an Laien gerichtete Kurzdogmatiken«, wobei die literarische Gattung als Definitum hinter die Autorenintention zurücktritt: »Wenn ein Werk eine Darstellung der gesamten Theologie in vereinfachter Form bieten sollte und die nicht primär für den Diskurs unter Fachkollegen gedacht war, wurde es in die quantitative Analyse einbezogen.« (11) Der geographische Rahmen wird mit dem Alten Reich unter Ausschluss der habsburgischen Erblande gesetzt, während sich der zeitliche Rahmen mit dem status post quam mit dem Beginn reformatorischer Predigtkatechesen seit ca. 1520 und dem status ante quem mit dem nahezu vollständigen Erliegen katechetischer Praxis im Verlauf des 30-Jährigen Krieges ca. 1620 ergibt. Von einer größeren Verbreitung geht O. aus, wenn im Untersuchungszeitraum mindestens vier Ausgaben in verschiedenen Dru­cken nachweisbar sind.
Vor dem Hintergrund einer äußerst knappen und frageorientierten Zusammenfassung des historischen Kontextes in methodisch dichter Nähe zu den Arbeiten des Betreuers Kaufmann fragt O. sodann nach der »Einbettung der lateinischen katechetischen Werke in die zeitgenössische Katechese«. (13) Ein zweiter Abschnitt untersucht exemplarisch ausgesuchte Werke und ein dritter Ab­schnitt fasst die Ergebnisse der Untersuchung in Thesen zusammen, die sie zugleich in die aktuellen Forschungsdiskurse einordnen.
Der erste Hauptteil der Arbeit (2. Zeitgenössischer Rahmen, Forschungsstand und Felderschließung) verbindet das konkrete An­liegen der Untersuchung mit der stark ausdifferenzierten neueren Reformationsgeschichtsforschung. Hier eine Synthese vorlegen zu wollen, wäre vermessen. Kein Wunder also, wenn O. sich auf be­währte und im stillschweigenden Konsens der Forschungsbeiträge approbierte Darstellungen verlässt. Der politisch-reformationsgeschichtliche Teil trägt erkennbar die methodische und heuristische Handschrift des Göttinger Reformationshistorikers Kaufmann, auch wenn andere Darstellungen in den Anmerkungen zu Wort kommen. Der bildungsgeschichtliche Ansatz verdankt sich der bis heute in ihrer synthetischen Kraft unersetzten Abhandlung monographischen Ausmaßes von Arno Seifert im Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte sowie einigen Ergänzungen der gleichen Generation, vorzugsweise katholischer Universitätshis­toriker. Orthodoxie- und Konfessionalisierungsforschung wird knapp auf der Basis der einschlägigen Literatur in thesenhafter Konzentration erneut auf das Anliegen der Göttinger reformationshistorischen Tradition hin zugespitzt. Für die Katechismusforschung greift O. auf die magistralen Ausführungen von Chris­toph Weissmann sowie die älteren Arbeiten von Hans-Jürgen Fraas und Werner Jetter sowie, in ideologiekritischer Rezeption, Robert J. Bast zurück. O. geht von der Notwendigkeit lateinischer Kompendien für die pfarramtliche Praxis katechetischen Unterrichts aus, die in der bisherigen Forschung bisher nur zurückhaltend, insbesondere kaum auf Inhalt und didaktische Akzentuierung hin untersucht worden ist. Mit einer sorgfältigen druck- und buchgeschichtlichen Analyse umgrenzt O. abschließend die materiale Vielfalt lateinischer Katechismen: Angesichts der Vielfalt gedruck­ter Katechismen geht O. von einer »binnenkonfessionellen Pluralität« aus (115). Weiterhin vermerkt er die statisch signifikante Häufung von Einzelautoren und nur wenigen Gemeinschaftswerken. Ein eigenes Kapitel verdienten schließlich Katechismusstreitigkeiten.
Der zweite Hauptteil stellt sodann die verbreitetsten lateinischen katechetischen Werke anhand der Catechesis des Melan­-chthonschülers David Chyträus von 1554, des Compendium von Jakob Heerbrand von 1573, einem Vertreter der Wittenberger Reformation in Württemberg, und des Tübinger Theologen und Schwiegersohns von Johannes Brenz, Matthias Hafenreffers Loci theologici aus dem Jahre 1600 vor. In der Bearbeitung folgt O. einer festen Matrix von Fragen: Nach einer knappen biographischen Skizze folgt die Einführung in die Quelle, deren Gliederung und systematische Klassifikation, kontroverstheologische Akzentuierungen, didaktische Strukturen, Autoritäten- und Traditionsverweise sowie ein Vergleich zu den anderen beiden Vertretern der lateinischen Katechetik. Alle einzelnen Untersuchungen werden in einer Zusammenfassung gewürdigt. Hier finden sich zahlreiche Wertungen und Urteile, die im forschungsbezogenen Diskurs im Einzelnen zu diskutieren wären, wofür im Rahmen einer Rezension keine Möglichkeit besteht. Damit soll freilich nicht eine verhaltene Negation der getroffenen Aussagen formuliert werden, sondern die höchst anregende und zu weiterer Auseinandersetzung mit diesem bisher wenig bearbeiteten Feld der Forschung zur Ent- stehung konfessionell identifizierbarer Kulturen hervorgehoben werden.
Das Ergebnis nimmt zunächst nicht wunder: »die Gruppe lateinischer, lutherisch-orthodoxer ›Massenkatechismen‹ (kann) als eine zentrale Leitgattung für die Betrachtung des Konfessionalisierungsprozesses erscheinen.« (415) Dass diese Formulierung den Prozess der Konfessionalisierung mit der Entstehung konfessioneller Kirchenkultur stillschweigend identifiziert, dürfte von manchem Konfessionalisierungstheoretiker bestritten werden. Forschungsgeschichtlich lässt sich aber bereits darin eine wichtige Tendenz erkennen: Der Fokus von der staatlichen Lenkung und Dominanz konfessioneller Identitätsbildungsprozesse verlagert sich auf die Beobachtung von literarischen Erzeugnissen einer gebildeten Elite und deren Einfluss auf die weitere Entwicklung, wenn auch nicht gegen, so doch zuweilen ohne ausdrückliche Unterstützung der säkularen Obrigkeiten. Die Ablösung des Konfessionalisierungsparadigmas von dem einer Frage nach der stärker prozessual verstandenen Entstehung konfessionell identischer Kultur – und auch ihrer kulturellen Praxis hier auf dem Gebiet des Bildungswesens – lässt sich hierin beobachten. Das wird auch in den nachfolgenden 21, teilweise untergliederten Thesen deutlich, welche die Vielschichtigkeit und Komplexität des Konfessionalisierungsgeschehens herausstellen.
Neben einer intensiven Erörterung der didaktischen und pädagogischen Akzentuierungen (Thesen 2–7) betont O. allerdings auch die Herausbildung von 18 Loci der reformatorischen Lehre, die freilich zunehmend in kirchenpraktischer Ausrichtung thematisiert werden (Thesen 8 und 9). Im Blick auf die kontroverstheologischen Aspekte der Untersuchung (Thesen 10 und 11) erstaunt die Aussage, dass die diesbezüglichen umfänglichen Textpassagen »nicht unbedingt als Ausdruck einer besonders polemischen Gesinnung anzusehen« seien. Damit korrigiert O. eine bislang im Konsens vorgetragene Be­hauptung von der Streitlust der orthodoxen Theologen, die zumindest im Blick auf die Katechetik nicht verifiziert werden konnte. Weniger erstaunlich als vielmehr erwartet ist die in der 12. These formulierte Behauptung, dass aufgrund der ›massenhaften‹ Verbreitung und der vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten die Katechismen eine normierende Wirkung zu entfalten vermögen. Neben möglichen Verwendungsorten (Thesen 13 bis 15) erwägt O. in der 16. These die besondere Bedeutung der Verfasser der Katechismen, die zu ihrer Verwendung offenbar entscheidend Anlass geben. Weiterhin vermag O., die wachsende Bedeutung der Konkordienformel als autoritatives Dokument (These 17) und die zunehmende Verwendung rationallogischer Argumente zu konstatieren. Die These 20 nimmt in fünf Teilthesen Stellung zur gegenwärtigen Konfessionalisierungsdebatte und trägt entscheidende Beispiele zur Aufweichung der strengen These etwa bei Heinz Schilling oder Wolfgang Reinhard sowie deren Schülern bei. Hierdurch wird ein wichtiger Beitrag zu deren weiterer Entwicklung geleistet, der auch zu dem kritischen pro oder contra bisheriger Publikationen beiträgt. Dass abschließend die Bedeutung der lateinischen Katechetik als zu wenig angemessen berücksichtigt postuliert wird, versteht sich angesichts des knapp 450 Seiten starken Werkes von selbst.
Vor dem Hintergrund einer konstruktiven Weiterentwicklung der Konfessionalisierungsthese im Sinne inter- und transkonfessioneller bzw. konfessionell indifferenter Ausdrucksformen religiöser Identität und auf eine verstärkte Beachtung konfessionskultureller Entwicklungen stellt die Arbeit zweifellos einen wichtigen Beitrag dar. Dass im Einzelnen die zahlreichen Werturteile und Interpretationen einer weitergehenden Überprüfung zu unterziehen sein werden, sieht O. selbst in seinem Schlusskapitel. Insofern sind dem Werk eine breite Rezeption und eine an den Quellen geschulte kritische Aufnahme zu wünschen.