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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

18–20

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Khoury, Adel Theodor [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Ethos der Weltreligionen.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1993. 208 S. 8o = Herder Spektrum, 4166. Kart. DM 16,80. ISBN 3-451-04166-9.

Rezensent:

Hans-Werner Gensichen

Der bedeutende Hallenser Religions- und Missionswissenschaftler H. W. Schomerus hinterließ, als er 1945 starb, ein umfangreiches Manuskript einer Ethik der Religionen, dessen Veröffentlichung sich allerdings als unmöglich erwies. Seitdem hat es kaum noch einen Autor gegeben, der dies gewaltige Gebiet im Alleingang lückenlos bewältigt hätte. Die neueren einschlägigen Handbücher sind meist Gemeinschaftsarbeiten, die nicht selten auf Vollständigkeit verzichten, so etwa das von C. H. Ratschow herausgegebene Werk "Ethik der Religionen" (Stuttgart 1980), in dem weder die Religionen Chinas noch Judentum und Christentum behandelt werden. Schon in dieser Hinsicht steht der vorliegende kompakte Band mit seinen sieben Einzelabhandlungen verschiedener Autoren vergleichsweise gut da; nur die Stammesreligionen (die ja zweifellos auch ein "Ethos" besitzen) bleiben unberücksichtigt.

Die Einleitung des Hg.s plädiert nachdrücklich für eine "Ökumene der Religionen", in der Dialog und Zusammenarbeit, basierend auf wechselseitiger Partizipation am "Wahren und Guten" in allen Religionen, herrschen sollen (der versteckte Druckfehler "Religionen der Menschlichkeit" statt "Religionen der Menschheit", 208, deutet in die gleiche Richtung). Auffällig ist allerdings, daß weder hier noch anderswo in dem Band ausdrücklich auf Hans Küngs Projekt eines "Weltethos" der Religionen Bezug genommen wird. Die meisten Einzelbeiträge führen die betont euphorische Tendenz nicht fort, sondern sind primär um exakte, quellenmäßig abgesicherte Darstellung dessen bemüht, was die jeweils behandelte Religion zum Thema zu sagen hat. Dies gilt gleich zu Beginn von Ernst Pulsforts Abhandlung über den Hinduismus ­ ein Muster präziser Aufhellung höchst disparater religions- und sozialgeschichtlicher Zusammenhänge, die auch der gegenwärtigen indischen Situation nichts schuldig bleibt. Als einziger der beteiligten Autoren bringt Pulsfort auch einen Schlußabschnitt mit "Anfragen" (34 ff.), der einige verbreitete Irrtümer über die angeblich unbeschränkte Toleranz und Friedensliebe im Hinduismus, speziell in der Bhagavadgita oder bei Gandhi, mit sicherer Hand richtigstellt.

Diese Sicherheit waltet auch in Peter Gerlitz’ Buddhismus-Kapitel, dem der Umstand zugute kommt, daß der Vf. seinen Gegenstand schon seit über zwei Jahrzehnten mehrfach, mit zunehmender Meisterschaft, bearbeitet hat, u.a. auch in dem genannten Handbuch von C. H. Ratschow. Zur Bezugnahme auf den bedeutenden indischen Reformer B. R. Ambedkar (1891-1956), der mit Hunderttausenden seiner kastenlosen Anhänger kurz vor seinem Tod zum Buddhismus übertrat (71), ist noch anzumerken, daß Ambedkar heute in Indien in der sog. Dalit-Bewegung eine ungeahnte Renaissance erlebt, die freilich die Frage nahelegt, ob damit nicht auch der im Theravada-Buddhismus von jeher geläufige Hiatus zwischen elitärer Mönchsreligion und dem Glauben der Laienangehörigen eine drastische Zuspitzung erfährt.

Lehrstücke gleicher Qualität stellen die Beiträge von Roman Malek (Konfuzianismus und Daoismus), Dieter Vetter (Judentum) und dem Hg. (Islam) dar. Was China betrifft, so wird dankenswert deutlich herausgearbeitet, daß die Frage nach Religion und Moral in den unterschiedlichen Traditionen durchaus unterschiedlich beantwortet wird, ganz zu schweigen von der Nachwirkung der radikal-marxistischen Trennung beider Bereiche (78 f.). Bei Vetters Analyse des Judentums imponiert die Konsequenz, mit der die Argumentation Zug um Zug aus den biblischen und rabbinischen Belegen entwickelt wird: "Alle Wege zum Guten beginnen mit der Abkehr vom Bösen" (122). Auch das Leiden, auch Sünde und Tod rufen den Menschen zur Heiliung, deren Werke nur vollbringen kann, "wer die von den Werken Gottes ausgehende Heiligung in sich aufnimmt" (127). Es ist der kompromißlose Dienst an Gott, mag er nach außen noch so exklusiv erscheinen, "der sich in der gerechten Treue und liebevollen Sorge zwischen den Menschen äußern" muß (145). Durch Annahme der noachidischen Gesetze haben auch die nichtjüdischen "Gerechten unter den Völkern" am Willen des Gottes Israels, am Frieden Israels mit den Völkern und somit an der kommenden Welt teil.

Ist es Zufall, daß im folgenden Kapitel über das Ethos des Christentums (Franz Furger) gerade diese Töne der Gewißheit gedämpft erscheinen? Der Vf. hat gewiß guten Grund, sich ausführlich mit den Irrwegen, Abweichungen und "Verkrümmungen" auseinanderzusetzen, die im Lauf der Christentumsgeschichte vor allem dort bemerkbar wurden, wo der "unbedingte Glaubensanspruch Jesu, des menschgewordenen Gottessohnes, in einen innerweltlichen Absolutheitsanspruch umgedeutet wurde" (156). Eine gewissenhafte Moraltheologie darf an alledem keinesfalls vorbeisehen. Aber gerade im interreligiösen Vergleich, überdies vor dem Horizont der Verlagerung des Schwerpunkts der Christenheit von der nördlichen zur südlichen Hemisphäre, wünschte man sich ein wenig mehr von der befreienden Zuversicht interkultureller Theologie und dynamischer Mitwirkung an einer neuen Weltgesellschaft zu hören, in der die Verheißung vom "Salz der Erde" durch den Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden glaubwürdige Gestalt gewinnen könnte. Dringlicher noch wird dieser Wunsch angesichts des Schlußkapitels über den Islam. Hier kann der Hg. A. Th. Khoury in Duktus und Struktur überzeugend an Vetter anknüpfen; denn nicht umsonst hat sich Muhammad mit seinen Offenbarungen in der Mose-Nachfolge gesehen ­ freilich mit dem Unterschied, daß Gottes Gerechtigkeit das Tun seines Willens durch die Gläubigen strikt determiniert, ohne daß seine Weisheit und sein Erbarmen dadurch außer Kraft gesetzt wären. Das Ethos der Muslime ist somit, wie K. darlegt, durch den Absolutheits-, Totalitäts- und Universalitätsanspruch gegenüber Judentum und Christentum bestimmt. Offen bleibt vorerst, ob und wie Muslime in der nichtislamischen Diaspora für das Zusammenleben mit Nicht-Muslimen verbindliche Normen entwickeln können. Christen ihrerseits werden nicht nur dafür, sondern auch für Begegnung und Zusammenarbeit mit allen Menschen anderer Religionen in diesem Band insgesamt zuverlässige Anleitung und Weisung finden.